Wer das Schwert nimmt ...

Was hat Martin Luther mit Marx und Engels gemeinsam - und was nicht?

  • Friedrich Dieckmann
  • Lesedauer: 10 Min.

Das Verhältnis von Karl Marx und Friedrich Engels zu Luther ist intensiv und keineswegs deckungsgleich. Zwischen Luther und Marx gibt es eine existenzielle Übereinstimmung: Beide führen, jedenfalls bei ihrem Antritt, eine Existenz außerhalb bürgerlicher Karrieren. Luthers geistlicher Existenz in der Mönchszelle und auf dem professoralen Katheder entspricht bei Marx im Exil eine Lebensform, deren einzige Einkünfte gelegentliche Pressehonorare sind; sein Freund Friedrich Engels trägt im wesentlichen die Unterhaltskosten der Marx-Familie. Er spielt ökonomisch die Rolle, die in der wachsenden Familie Luthers dessen Frau Katharina übernimmt.

Marx und Engels entstammten protestantischen Familien der preußischen Rheinlande. Marx’ Vater Hirschel, Rechtsanwalt und Sohn eines Trierer Rabbiners, hatte sich 1824, als sein Sohn schulpflichtig wurde, als Heinrich Marx taufen lassen. Während der Protestantismus der Marx-Familie im Zeichen der Emanzipation von einem Judentum stand, das weithin in voraufklärerischen Verhältnissen gefangen war, wuchs Engels in der Textilstadt Barmen in einen pietistisch-dogmatischen Protestantismus hinein, der, dem orthodoxen Judentum merkwürdig verwandt, auf seine Weise voraufklärerische Züge hatte und bei Handwerkern und Arbeitern einen Mystizismus schürte, der sich im 17. Jahrhundert mit endzeitlich-apokalyptischen Zügen in Westeuropa und Deutschland entwickelt hatte.

Der Autor

Friedrich Dieckmann, Jg. 1937, studierte Germanistik, Philosophie und Physik an der Universität Leipzig, u. a. bei Ernst Bloch; der Kritiker und Essayist war in den 1970er Jahren als Dramaturg am Berliner Ensemble tätig; dieser Tage erscheint von ihm im Buchhandel »Luther im Spiegel: Von Lessing bis Thomas Mann« (Quintus-Verlag, 264 S., geb., 22 €).

Was Marx und Engels und Engels mit Luther verbindet, ist die historische Position im Vorfeld einer tiefgreifenden Krise. Wie um 1515 ist um 1845 in Deutschland eine revolutionäre Situation herangereift, die in beiden Fällen mit den sozialen Auswirkungen des technologischen und kommunikativen Fortschritts zu tun hat. Um 1500: Buchdruck und Schießpulver, Reichtum der Städte, Verarmung des Adels, Entrechtung und Bedrückung der Bauern. Um 1840: Eisenbahnbau und schnell anwachsende maschinelle Produktion, Aufstieg des Bürgertums, drastische Ausbeutung des jungen Proletariats.

Der 34-jährige Luther greift 1517 als Theologe in diese Krisensituation ein und wird, einen einzelnen Missstand attackierend, zur Stimme der nationalen Erhebung. Der 26-jährige Marx versucht 1844 mit seinen Aufsätzen in den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern« sich an die Spitze einer geistigen Bewegung zu setzen, die den Umsturz im Schilde führt. Auf großer stilistischer Höhe attackiert er in seiner Hegel-Kritik die Religion ganz pauschal und tut es ebenso in dem Aufsatz »Zur Judenfrage«, in dessen zweitem Teil eine besondere Komponente des Judentums vor den Richterstuhl des Rabbinerenkels gezogen wird: »Der Gott der Juden hat sich verweltlicht, er ist zum Weltgott geworden. Der Wechsel ist der wirkliche Gott des Juden.« Es wäre töricht, solche Sätze für antisemitisch zu halten. Wir haben es, nach der christlichen wie der jüdischen Seite, mit radikaler Religionskritik zu tun, genauer: mit einer Kritik des Missbrauchs von Religion zu menschenfeindlichen Zwecken.

Marx beschreibt die Gegenposition im Namen Thomas Müntzers, der es für unerträglich erklärt habe, »daß alle Kreatur zum Eigentum gemacht worden sei, die Fische im Wasser, die Vögel in der Luft, das Gewächs auf Erden - auch die Kreatur müsse frei werden.« Das steht in der »Hochverursachten Schutzrede«, Müntzers Kampfschrift gegen Luther von 1524, aber es wirkt wie bei Luther abgeschrieben; es bezeichnet eine gemeinsame Position von Luther, Müntzer, Marx und Engels.

In seiner Hegel-Kritik postuliert der junge Marx einen neuen kategorischen Imperativ: »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«. Dann setzt er sich in eine Linie mit Luther: »Selbst historisch hat die theoretische Emanzipation eine spezifisch praktische Bedeutung für Deutschland. Deutschlands revolutionäre Vergangenheit ist nämlich theoretisch, es ist die Reformation. Wie damals der Mönch, so ist es jetzt der Philosoph, in dessen Hirn die Revolution beginnt.« Es geht hoch her: »Luther hat allerdings die Knechtschaft aus Devotion besiegt, weil er die Knechtschaft aus Überzeugung an ihre Stelle gesetzt hat. Er hat den Glauben an die Autorität gebrochen, weil er die Autorität des Glaubens restauriert hat. Er hat die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat. Er hat den Menschen von der äußern Religiosität befreit, weil er die Religiosität zum innern Menschen gemacht hat.«

Aber »wenn der Protestantismus nicht die wahre Lösung« gewesen sei, so war er laut Marx doch »die wahre Stellung der Aufgabe«: »Und wenn die protestantische Verwandlung der deutschen Laien in Pfaffen die Laienpäpste, die Fürsten samt ihrer Klerisei, den Privilegierten und den Philistern, emanzipierte, so wird die philosophische Verwandlung der pfäffischen Deutschen in Menschen das Volk emanzipieren ... Damals scheiterte der Bauernkrieg, die radikalste Tatsache der deutschen Geschichte, an der Theologie. Heute, wo die Theologie selbst gescheitert ist, wird die unfreiste Tatsache der deutschen Geschichte, unser status quo, an der Philosophie zerschellen. Den Tag vor der Reformation war das offizielle Deutschland der unbedingteste Knecht von Rom. Den Tag vor seiner Revolution ist es der unbedingte Knecht von weniger als Rom, von Preußen und Österreich, von Krautjunkern und Philistern.« Hoffte Marx, dass sein Weckruf ähnliche Folgen haben könnte wie Luthers Protest gegen den Ablasshandel?

Luthers Wirkung hatte sich darauf gegründet, dass er einen besonders unerträglichen Sündenfall der Kirche aufs Korn nahm und seine Kritik in einer Weise durchkämpfte, durch die das theologisch-politische Ganze ins Wanken kam: Er zielte aufs Einzelne und stürzte das Ganze. Marx will andersherum verfahren und ist darum politisch lange wirkungslos: Er zielt auf das Ganze und erreicht darum nur eine begrenzte Schicht radikaler Opponenten. Dem Staat fällt es nicht schwer, Marx mit Hilfe erst der Zensur, dann auch der Ausweisung politisch auszuschalten. In seinem Hegel-Aufsatz hatte Marx das Problem der Wirkmächtigkeit ins Auge gefasst: »Die Theorie wird in einem Volke immer nur so weit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist ... Es genügt nicht, daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen.« Dies letztere war Luthers Fall gewesen.

Als die Revolution dann im März 1848 im Gefolge der Pariser Erhebung in Deutschland ausbricht, befindet sich Marx ebenso wie Engels außer Landes. Gemeinsam verfassen sie das »Manifest der Kommunistischen Partei« und die »Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland«; in die Heimat zurückkehrend, finden sie sich mit andern bei der in Köln erscheinenden »Neuen Rheinischen Zeitung« zusammen. Als ein Jahr später die Reaktion in ganz Deutschland gesiegt hat und im Dezember 1850 ebenso in Frankreich, gilt es für Marx wie für Engels, die nun beide wieder im Ausland sind, die Niederlage zu verarbeiten.

Engels tut dies in Gestalt einer Schrift über den deutschen Bauernkrieg von 1525. Er denkt moralisch, in den Kategorien des Verrats: »Die Klassen und Klassenfraktionen, die 1848 und 49 überall verraten haben, werden wir schon 1525, wenn auch auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe, als Verräter vorfinden.« Luther habe »in den Jahren 1517 bis 1525 ganz dieselben Wandlungen durchgemacht, die die modernen deutschen Konstitutionellen von 1846 bis 1849 durchmachten und die jede bürgerliche Partei durchmacht, welche, einen Moment an die Spitze der Bewegung gestellt, in dieser Bewegung selbst von der hinter ihr stehenden plebejischen oder proletarischen Partei überflügelt wird«.

In der theologischen und politischen Radikalisierung der von ihm ausgelösten Bewegung ist Luthers Situation die des scheiternden Vermittlers. Beunruhigt durch die Nachrichten vom drohenden Aufstand war er am 13. April 1525 auf eine Reise in zwölf Städte Thüringens und seines nördlichen Vorlands gegangen, um sich ein Bild von der Lage zu verschaffen und predigend und ratend auf die akute Krise einzuwirken. Unterwegs hatte er die Zwölf Artikel der Memminger Bauernversammlung zustimmend zur Kenntnis genommen und am 20. April in Eisleben, seiner Geburtsstadt, eine Anfang Mai im Druck erscheinende »Ermahnung zum Frieden« geschrieben, die beiden Seiten inständig und hochbesorgt auch um das eigene, gewaltlos durchgesetzte reformatorische Werk ins Gewissen redete und wie die Niederschrift einer großen Predigt wirkt. Sie geißelt einerseits das brutale Ausbeutungsregime der »Fürsten und Herren« und vermahnt andererseits die Bauern, keinen Rachekrieg gegen ihre Bedrücker zu führen.

Nach seiner Rückkehr am 6. Mai rief er in einer zweiten Schrift die weltliche Gewalt mit aller Schärfe zur Gegenwehr auf. Engels beschreibt Luthers Zwangslage durchaus realistisch: »Er griff die Regierungen entschieden an. Sie seien schuld am Aufstand durch ihre Bedrückungen; nicht die Bauern setzten sich wider sie, sondern Gott selbst. Der Aufstand sei freilich auch ungöttlich und wider das Evangelium, hieß es auf der andern Seite. Schließlich riet er beiden Parteien, nachzugeben und sich gütlich zu vertragen.« Doch sei der Aufstand »der besonnenen Reform rasch über den Kopf« gewachsen; so sei Luther mehr und mehr zum Knecht der protestantischen Fürsten geworden. »Lasset nur die Büchsen unter sie sausen, sie machen’s sonst tausendmal ärger«, zitiert Engels aus Luthers Brief an Johann Rühel vom 30. Mai 1525, nach der Niederschlagung des Müntzerschen Aufstands, und setzt im Blick auf das Jahr 1848 hinzu: »Geradeso sprachen unsere weiland sozialistischen und philanthropischen Bourgeois, als das Proletariat nach den Märztagen seinen Anteil an den Früchten des Siegs reklamieren kam.« Dass weder das »Kommunistische Manifest« noch die »Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland« dazu angetan waren, der bürgerlichen Mitte diesen Anteil schmackhaft zu machen, unterschlägt der Geschichtsbetrachter.

Engels’ Kritik verkennt, dass Luther nicht als Politiker, wie Ulrich von Hutten und Franz von Sickingen, angetreten war, sondern als Erneuerer der christlichen Botschaft: »Wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen.« (Matth. 26, 52) Natürlich hatte Luther noch andere Gründe, sich gegen die Erhebung zu stellen. In der Auseinandersetzung mit seinem theologischen und politischen Antipoden Müntzer, der seine Vermahnung zur Gewaltlosigkeit mit einer exzessiven Schmähschrift quittiert hatte, zielte er auf die programmatische Schwäche des Aufstands; er musste berechtigte Sorge haben, dass seine theologische Reformation in den Sog einer vorhersehbaren Niederlage gerate.

Und Karl Marx? Im Vorfeld der sich Mitte der 1840er Jahre anbahnenden revolutionären Krise hatte er in seiner Auseinandersetzung mit Pierre Joseph Proudhon, dem französischen Sozialisten, keinen Zweifel über ein Konzept gelassen, welches wie das Müntzersche den »Zusammenstoß Mann gegen Mann als letzte Lösung« einer »totalen Revolution« propagierte. Ein Wort der französischen Schriftstellerin George Sand stand am Ende: »Kampf oder Tod; blutiger Krieg oder das Nichts. So ist die Frage unerbittlich gestellt.« Auch hier, wie bei Müntzer, die Verbindung von Utopismus und Gewaltbezogenheit im Namen eines ins Wirkliche gerufenen Gottesreichs. Marx richtete, soweit es in seiner Macht stand, die internationale Arbeiterbewegung an einer Theorie aus, die auf die aus der Krise hervorgehende totale Machtergreifung der Arbeiterklasse setzte.

Marx verarbeitet die Niederlage der Revolution zu einer Zeit, als auch in Frankreich die Gegenrevolution in Gestalt der Machtergreifung des Napoleon-Neffen Louis Bonaparte gesiegt hat. Unter der Überschrift »Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte« analysiert Marx den Parallelismus von Onkel und Neffen, Luther kommt in diesem Text nur beiläufig vor - als Beispiel dafür, wie sich geschichtliche Umbrüche in das Kostüm einer vergangenen Geschichte hüllen: »So maskierte sich Luther als Apostel Paulus, die Revolution von 1789-1814 drapierte sich abwechselnd als römische Republik und als römisches Kaisertum.« Marx’ Befund: »Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.« Seine Orientierung: »Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft.«

Marx weiß auch, wie diese Zukunft aussehen soll: »Proletarische Revolutionen ... kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eignen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht.« Diese Aussichten hindern ihn nicht, Luthers ökonomische Schriften genau zu lesen, als er nun an die Analyse des Kapitalismus geht; er nennt Luther in der Folge den »ältesten deutschen Nationalökonom« und exzerpiert ausführlich und mit deutlicher Sympathie aus diesen Texten.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.