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Das Trotzdem heißt: Schönheit

Heute wird der britische Schriftsteller John Berger 90

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Kunst, so sagt dieser Schriftsteller, sei eine Antwort auf das, was uns die Natur gelegentlich nur momentan wahrzunehmen erlaube. »Kunst versucht, die Möglichkeit des Wiedererkennens dauerhaft zu machen. Sie erweitert, sie bestärkt die kurze Hoffnung, welche die Natur bietet.« Es ist die Hoffnung, eine spezielle Art der Übereinstimmung leben zu dürfen. Der Himmel über dem See zum Beispiel stimmt immer mit dem See überein. Man kann nicht sagen, der Himmel richte sich nach dem See oder der See richte sich nach dem Himmel. Aber beide haben alles voneinander. Farben, Grenzen, Stimmungen. Wie schön wäre es, wenn man sich allem anpassen könnte, ohne dass dies Anpassung heißt. Nichts Bestimmtes sein zu müssen. Das wäre Harmonie. Gesundheit. Aber nein, dauernd muss man so tun, als wäre man der und der und das und das. Und genau daran stirbt man.

Über solche Dinge und solches Denken schreibt John Berger, einer der bedeutendsten britischen Schriftsteller. Dieser Autor, der lange Zeit in Frankreich lebte, in einem savoyischen Bergdorf, schrieb Romane, Erzählungen, Gedichte, kunsttheoretische Schriften, soziologische Abhandlungen, Theaterstücke, Filmdrehbücher (besonders für den Schweizer Regisseur Alain Tanner) und Fernsehserien, und er ist Maler. Er macht den Eindruck eines Menschen, der deshalb so schnell so vieles schreibt, weil er möglicherweise von der Furcht besessen ist, ein ihn heute quälendes Problem interessiere ihn morgen nicht mehr. »Ein Vielschreiber, na und? Das ist nur ein Ausgleich gegenüber all jenen, die nicht so viel schreiben. Viele tun es nicht aus Gründen der tugendsamen Zurückhaltung, sie tun es aus blankem Untalent. Keine Angst, ich werde noch Milliarden Jahre schweigen. Warum soll ich mir jetzt die Lust nehmen lassen, mich schreibend zu bestätigen? «

Anfang der siebziger Jahre erhielt er den renommierten Booker-Preis, für den Roman »G.«, er hielt dann beim traditionellen Festessen eine glühende Rede gegen die Ausbeutung karibischer Arbeiter durch die Stifter just dieses Preises, den er eben erhalten hatte - und gab die Hälfte des Preisgeldes an die »Black Panthers« auf Jamaika. Buh-Rufe und empörtes Zischeln gegen den marxistischen Autor, der bald darauf England in Richtung besagter französischer Berge verließ. Der anarchische Denker als Eremit, der fortan das Exil als wahre Heimstatt des unverstellten Denkens pries. »Vielleicht ist mein Hauptthema die Liebe: Sie gibt es nur, weil es Entfernungen gibt, die der Mensch nicht erträgt.« Die Gewalt der Trennungen als Motor des Zueinanderkommens, die Bösartigkeit als Impuls für Güte - behaupte niemand, das Wohlfeile im Menschen sei der Hauptstoff seiner Natur.

Noch einmal also: die Natur. Sie ist das, was ohne jedes Versprechen existiert. Innerhalb dieses Rahmens, so Berger, treffe der Mensch immer wieder unerwartet auf die Schönheit. In seinem Essay »Das Kunstwerk. Über das Lesen von Bildern« schreibt er: »Unter dem Steingeröll einer Lawine blüht eine Blume. Über der verfallenen Stadt geht der Mond auf - ich gebe dramatische Beispiele, um besagte Trostlosigkeit des Rahmens zu betonen. Wo und wie immer Schönheit anzutreffen ist - sie ist die Ausnahme, ein Trotzdem. Darum rührt sie uns.«

Bergers balladeske und zuweilen holzschnittartige Geschichten aus bäuerlicher Existenz (»Sau-Erde«, »Flieder & Flagge«) sind bei aller Derbheit zart und bei aller Zartheit doch niemals sentimental. Zwischen den Zeilen bittet er ums Verständnis für die Leiden, die er seinen Gestalten auferlegt. Dass er sie einem Leiden aussetzt, ist seinem Bedürfnis nach Gleichnis und mythischer Kontur geschuldet. Im Jahre 1992 veröffentlichte Reclam Leipzig eine Sammlung seiner Essays, »Gute Nachrichten Schlechte Nachrichten«. Darin die Erkenntnis: »Die Taubheit der Macht ist der Ursprung aller terroristischen Bewegungen.«

Diese Wahrheit haben Dogmatiker von links und rechts und diverser Mitte gleichermaßen befördert. Im Roman »A und X« heißt es: »Die gebenedeiten Worte wurden so lang gefoltert, bis sie sich in ihr Gegenteil fügten. Demokratie, Freiheit, Fortschritt? Wenn sie in ihre Zellen zurückgebracht werden, haben sie ihren Zusammenhang verloren.« Und Imperialismus, Kapitalismus, Sklaverei? »Ihnen wurde in glatt gebügelter Wirklichkeit oft genug der Zutritt zu dem, was Wahrheit wäre, verweigert.«

Der 1926 in Stoke Newington geborene Schriftsteller, der auch Maler ist, war seit jeher besessen von Sichtbarkeit. Aber sichtbar sind für uns auch Träume, Halluzinationen, vielleicht unsere einzig wahre individuelle, von niemandem geteilte und angreifbare Welt. »Halberblicktes« nannte er einmal den Quell seiner Inspiration: die Dinge erfassen und sie zugleich im Unscharfen, in Fabuliergefilden belassen. Konkrete Eindrücklichkeit und Entrückung, das ist das Faszinierende seiner Beschreibung von Schicksalen und Geographien.

Von seiner Literatur sagt Berger, dieser lebenslang leidenschaftliche Motorradfahrer, sie sei seine Art, die Menschen anzublicken. Er blickt uns an als Fremder, die Fremde ist die Heimat des Poeten. Fern jener Stätte eines wahren Friedens, wo uns die Welt endlich ganz entspräche. Und ist der Hintergrund leerer Raum oder unbestellter Raum? »Überall auf der Erde leben wir in einem Gefängnis.« Darum kreisen die Texte des Briten, einer jener so seltenen Kunstkritiker, die auch im Reflektieren Schöpfer bleiben.

In Sprache nie fertig, sondern fortwährend fündig. Berger ist in seinen Essays Bildbetrachter, damit wir Betrachter neu sehend werden. Die Wunder daran erkennend, dass sie in Flüchtigkeit so schön erzittern. Ganz so, wie eines seiner Bücher heißt: »Und unsere Gesichter, mein Herz: vergänglich wie Fotos«. Das liest du, bist einverstanden mit allem Vergängnis, und dein Empfinden folgt dennoch dem Grundgesetz aller Lebenskraft: Auch wenn alles zugrunde geht, müssen wir jedes unserer Nachtquartiere aus Granit bauen.

Am 5. November wird John Berger neunzig Jahre alt.

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