Vor 10 Jahren: Die »Erfurter Erklärung«

Interview mit der Schriftstellerin Daniela Dahn, eine der Erstunterzeichnerinnen

  • Lesedauer: 3 Min.
Auf den Tag genau vor zehn Jahren wurde die »Erfurter Erklärung - bis hierher und nicht weiter« verabschiedet. Eine andere Politik ist darin unter anderem gefordert worden, eine andere Regierung auch. Eine Bilanz.
ND: Es gab zwar einen Aufschrei, auch bald eine andere Regierung, aber was ist mit der anderen Politik?
Dahn: Warum diese Erklärung damals so ein Aufsehen erregte, war ja der Umstand, dass das fast ausschließlich von namhaften Sozialdemokraten, Gewerkschaftern, Kirchenleuten, Wissenschaftlern, Intellektuellen initiiert wurde, die meinten, eine andere Politik wäre nur erreichbar mit einer anderen Regierung und einem anderen Kräfteverhältnis, aus der man auch die PDS als Mitregierungspartei nicht mehr herausdenken dürfte. Kohl hat uns damals als »intellektuelle Anstifter« und »Hassprediger« beschimpft, die auf der »Straße des Verrats« wandeln, eine heute kaum noch nachvollziehbare Aufregung.

Die Aufregung hat sich gelegt?
Ja. Doch an der Politik, die wir damals als Kalten Krieg gegen den Sozialstaat bezeichneten, hat sich leider nichts verändert. Im Gegenteil, sie hat sich zugespitzt, diese Richtung. Was sich verändert hat, ist die Verschiebung im linken Parteienspektrum. Zigtausend enttäuschte Sozialdemokraten und Gewerkschafter haben sich über das Zwischenstadium der WASG jetzt doch offenbar durchgerungen, eine neue linke gesamtdeutsche Partei zu gründen, die irgendwann auch mal für Koalitionen auf Bundesebene infrage kommen wird. Also in diesem Punkt, der die meiste Aufregung ausgelöst hatte, hat sich was verändert, in unserem Hauptpunkt, der Politikänderung, bislang leider nichts.

Die Erstunterzeichner, 40 Persönlichkeiten aus einem breiten gesellschaftlichen Spektrum, haben ja drei Parteien was ins Stammbuch geschrieben: der SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der PDS. Inwieweit haben die SPD und die Grünen überhaupt diese Erfurter Erklärung zur Kenntnis genommen?
Also von den Grünen habe ich keine übermäßige Reaktion in Erinnerung. Innerhalb der SPD hat das schon für Aufsehen gesorgt. Ich meine, wenn Mitstreiter wie Egon Bahr, Peter von Oertzen, Günter Grass dabei sind, also Leute, die sich immer für diese Partei verwandt haben, Dieter Lattmann war im Bundestag für die SPD, da hat es natürlich Diskussionen und Aufregung gegeben. Und was ich erwähnte, mag ja ein Teil der Konsequenzen gewesen sein. Es hat rumort bei den Sozialdemokraten.

Nun hat sich aber die SPD in das Bett der CDU gelegt und ist nicht, wie die Erfurter Erklärung gefordert oder sogar gehofft hat, in eine starke Opposition oder vielleicht sogar in eine Regierung gegangen gemeinsam mit den Bündnisgrünen und der PDS. Ist damit das politische Ziel der Erfurter Erklärung überholt?
Also das politische Ziel, zu einer anderen Politik zu finden, ist natürlich aktuell. »Eigentum verpflichtet«, wir wollten die Politik auf das Grundgesetz festlegen - wie könnte das überholt sein. Aber inwiefern die repräsentative Demokratie unter den kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen einfach aufgekauft werden kann - diese zentrale Frage ist offen geblieben. Sie wird natürlich auf vielen Ebenen aufgegriffen. Die Unteilbarkeit der freiheitlichen und der sozialen Menschenrechte wird auch auf dem Weltsozialforum in Nairobi, auf das ich mich gerade vorbereite, eine Rolle spielen.

Fragen: Hanno Harnisch
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