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Coaching für poly-amouröse Zustände

Das Nachwuchsfestival »Freischwimmer« in den Sophiensaelen bearbeitet in diesem Jahr das Thema Familie

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 4 Min.

Viele Aspekte werden angerissen, viele Protagonisten auf die Bühne gebracht: Um Oma und Opa geht es, ein »Vater«-Piece wird gegeben und auch ein Coaching für poly-amouröse Zustände angeboten. Nur eine Figur taucht gar nicht auf: die Mutter. Das mag man für eine vorauseilende Zukunftsannahme halten, nach der spätere Generationen geklont und lediglich von Leihmüttern ausgetragen werden, die nach ausreichendem Embryonenwachstum zurück in die Gebärfabrik müssen. Man mag es auch in Zeiten, in denen die allein erziehende Mutter die herkömmliche Kleinfamilie statistisch in den Schatten stellt, als Hinweis auf die verzweifelte Suche nach anderen Familienmitgliedern werten.

Der erste Abend des vom 15. bis 19. November gehenden Festivals wird von Generationensprüngen geprägt. Die Schweizer Truppe K.U.R.S.K. setzt sich in einer Lecture Performance mit den Kolonial- und NS-Erfahrungen des Großvaters des Regisseurs auseinander. Der schwärmte etwa von der »deutschen Ordnung«, die sich in der »Unsicherheit Afrikas« durchsetzte. Das passt ganz gut zur Familie, aus der man flieht - und allgemein zur verklärt-reaktionären Grundströmung von AfD bis SVP.

Sehnsuchtsforschung mit Märchen betreibt am gleichen Abend Anna Natt. Die frühere Flamenco-Tänzerin betätigt sich bei extra komponierten Harfenklängen als vibrierende Rapunzel. Sie erinnert dabei an die unterdrückte Leidenschaft, mit der ihre sonst sehr kontrollierte Großmutter das Märchen der Brüder Grimm erzählte. Sophiensaele-Dramaturgin Christiane Kretschmer, die diese Produktion betreute, schwärmte vorab von der besonderen Atmosphäre, die durch das Arrangement aus drei Harfen und die darauf reagierende Performerin entstehe.

Während Natts Großmutter, die ihre Gefühle so eisern bändigte und der K.U.R.S.K.-Großvater, der sie als Herrenmensch auslebte, ein typisches Kontrastpaar der Großelterngeneration darstellen, hält sich The Agency in der Gegenwart auf. In einem artifiziellen Plastik-Environment bietet die Truppe unter dem Label »Rylon« im intimen Rahmen von maximal 20 Zuschauern Coaching für »post-pragmatische Beziehungserweiterung« an und verspricht, sich dabei eines Sets »hormoneller und post-pornografischer Praktiken« zu bedienen.

ScriptedReality hingegen verzichtet ganz auf Performer. Für »wie wir es wollen« schrieb die Gießener Truppe Dialoge der Vorabendserie »Marienhof« um und schickt die Zuschauer mit Handlungsanweisungen durch den Bühnen-Parcours. Einzelne »Marienhof«-Folgen waren seinerzeit von der Initiative für soziale Marktwirtschaft so umgeschrieben worden, um für Deregulierung und Neoliberalismus - natürlich unter dem Deckmantel des freien Unternehmertums - zu werben. Das sind dann eher Familienangelegenheiten im weiteren Sinn.

Die Performerin Veza Fernandez holt drei Regisseure, die auch vom Alter her ihre Väter sein könnten, als Vaterfiguren auf die Bühne. Sie entwickelt mit ihnen Beziehungen zwischen Schutz und Abhängigkeit, Fürsorge und Anziehung. Fernandez und ihre Bühnenväter scheuen sich auch nicht vor dem Erkunden inzestuösen Terrains.

Die thematische Bandbreite des Festivals ist enorm, trotz des Fehlens der Figur der Mutter. Als ästhetische Qualität des Programms fiel bei der Premiere in Zürich auf, dass alle Gruppe sehr eigene Räume und Atmosphären kreieren.

Für das Nachwuchsfestival bewarben sich an den fünf Veranstalterorten Zürich, Berlin, Frankfurt, Hamburg und Düsseldorf etwa 400 Gruppen. Für Sophiensaele-Dramaturgin Kretschmar ist die Ausschreibung auch ein »tolles Instrument«, um auf neue Künstler aufmerksam zu werden. »Von Anna Natt hatte ich zwar zuvor schon Arbeiten gesehen, sie trat aber noch nie an den Sophiensaelen auf. Bei der Sichtung der Einsendungen wurde mir aber bewusst, wie viele junge Künstler in der Stadt arbeiten, die wir bislang noch gar nicht kannten«, meinte sie gegenüber dieser Zeitung. Mit einigen von ihnen, die es nicht ins Festivalprogramm schafften, werde sie in der Zukunft zusammenarbeiten, versicherte Kretschmer. »Freischwimmer« ist also eine Startrampe für Talente auch jenseits des unmittelbaren Festivalrahmens.

15.-19. 11, Sophiensaele, Sophienstraße 18, Mitte; www.sophiensaele.com

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