Unter Trümmern der Aufbruch

Die Anfänge der Russischen Revolution waren ihrer und unserer Zeit voraus

  • Bini Adamczak
  • Lesedauer: 5 Min.

Das europäische 19. Jahrhundert hatte den Fortschritt erfunden und mit ihm die Hoffnung auf eine Zukunft, in der »die Sonne ohn’ Unterlass scheint«. Diese Hoffnung starb in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges. Die Produktiv- hatten sich in Destruktivkräfte verwandelt, das Gift des Nationalismus verschlang die bürgerlichen Demokratien wie die erste sozialistische Internationale. Die moderne Barbarei, die bereits grausam in den Kolonien gewütet hatte, kehrte in die Zentren der selbst erklärten Zivilisation zurück.

Inmitten dieses Massensterbens wurde das 20. Jahrhundert geboren. Wladimir Iljitsch Lenin, einer der wenigen Intellektuellen, die sich nicht vom nationalistischen Bellizismus hatten anstecken lassen, forderte, den imperialistischen Krieg in einen revolutionären Bürgerkrieg umzuwandeln. Er hätte den Vorschlag nicht eigens machen müssen. »Frieden!« war neben »Brot!« und »Land!« die zentrale Forderung, mit der die Russische Revolution in die Welt kam, massenhafte Desertion das Mittel ihrer Wahl. Die bäuerlichen Soldaten beschlossen, dass sie der Krieg zwischen Deutschland und Russland nichts anginge und die Herren Bourgeois ihre Fehden besser ohne ihre Hilfe austragen sollten. Sie verließen die Schlachtfelder und kehrten aufs Land zurück, um es zu bestellen und - zu enteignen. Die Stunde des Großgrundbesitzes hatte geschlagen.

Rückblickend wird der Ausbruch der Revolution auf den 23. Februar datiert - nach westlicher Zeitrechnung der 8. März, der internationalen Frauentag. Wie die Historikerinnen Jane McDermid und Anna Hillyar schreiben, verhielten sich die Demonstrantinnen zunächst genau auf die »irrationale« Weise, die traditionellerweise von »Frauen« erwartet wurde: Sie randalierten, zerstörten Straßenbahnen, plünderten Geschäfte. Die Frauendemonstration forderte zunächst Brot und Gleichberechtigung, dann marschierten die Teilnehmerinnen, um viele Arbeiter angewachsen, zum Stadtzentrum, verlangten ein Ende des Krieges und schließlich den Rücktritt des Zaren.

Einige Tage später dankte der Zar ab. Die Frauen erlangten das Recht zu wählen sowie kein Jahr später das Recht abzutreiben. Bald darauf ließen sie sich scheiden, ein handgeschriebener Zettel reichte dafür. Die Russische Revolution schuf das fortschrittlichste, gänzlich geschlechtsneutrale Ehe- und Familienrecht, das die moderne Welt je gesehen hatte. Homosexualität, deren Propagierung im Russland des Jahres 2016 unter Strafe steht, wurde im Russland des Jahres 1918 legalisiert. Vier Jahre darauf erklärte ein sowjetisches Gericht die Ehe zwischen einem Transmann/einer Butch und einer Cisfrau für rechtens - unabhängig davon, ob es sich dabei um eine wechselgeschlechtliche oder eine gleichgeschlechtliche Ehe handelte, mit dem einfachen Argument, dass die Ehe einvernehmlich geschlossen worden war. Die Anfänge der Russischen Revolution waren nicht nur ihrer, sondern auch unserer Zeit voraus. Ihre Träume wie ihre Praxis sind nicht nur schon wieder gegenwärtig, sondern auch immer noch zukünftig.

Das Kommunistische, das am Horizont der Russischen Revolution erschien, war das Versprechen eines schlussendlichen Fortschritts zu umfassender Gleichheit. In der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, lange Zeit der einzige Staatenbund, der keinerlei Hinweis auf ein Territorium enthielt, sollte die Trennung der Menschen nach Religion, Nation, Klasse, Geschlecht aufgehoben werden.

Allerdings enthielt die Bewegung zur Gleichheit eine Richtung; das Universelle wurde von einer partikularen Norm regiert. Das Gemeinsame bestand tatsächlich in der Verallgemeinerung eines seiner Teile. So wie die Landarbeit sollte auch die Reproduktionsarbeit durch Kollektivierung und Maschinisierung der Industriearbeit nachgebildet werden. Bauern wie Frauen würden damit tendenziell verschwinden und sich dem Vorbild des Fabrikarbeiters angleichen. Alle Menschen würden gleich, alle Menschen würden Brüder - männliche Lohnarbeiter. Die Zeit der Revolution sah der Schriftsteller Ossip Mandelstam von einem Ideal perfekter Männlichkeit geprägt und sein Kollege Andrei Platonov formulierte bündig, der Kommunismus sei im Wesentlichen eine Gesellschaft der Männer.

Tatsächlich aber war dieser »Kommunismus«, trotz anhaltender patriarchaler Machtverhältnisse, keine Gesellschaft der Männer, sondern eine revolutionäre Gesellschaft der Vermännlichung. Nur fünf Jahre nach Beginn der Revolution stellte der Gesundheitskommissar Nikolai Semaschko fest, dass maskulinisierte »Frauen« zu einem Massenphänomen geworden waren. In seiner Beschreibung trugen sie zersauste, oft schmutzige Haare, hatten billige Zigaretten zwischen die Zähne geschoben und sprachen mit rauen Stimmen. Sie hätten alle weiblichen Eigenschaften verloren und sich gänzlich in Männer verwandelt. Diese Revolutionär_innen arbeiteten massenhaft in Schwerindustrie und Parteizellen, kämpften in Armee oder Geheimpolizei, trugen kurze Haare und Hosen und verließen das angestammte Heim. Der neue Mensch war ein Drag King.

Die Welt, die Arbeiterinnen der Hand, des Kopfes und der Seele - so wurden Schriftstellerinnen genannt - gemeinsam zu schaffen begannen, war eine Welt des technologischen Fortschritts, der männlichen Rationalität und der grenzenlosen Gleichheit. Der Traum verwandelte sich bald in einen Albtraum. Schon in den 1930er Jahren wurde Abtreibung wieder verboten, Homosexualität kriminalisiert und die Kleinfamilie als Ideal des Staates rekonstruiert. Unter der Macht des Stalinismus verkehrte sich die Utopie der Gleichheit in die Realität der Gleichförmigkeit.

Allerdings unterbrach die »sexuelle Konterrevolution« (Wilhelm Reich) nicht alle Emanzipationslinien, die in der Revolution die Welt betreten hatten. Bis zum Ende der Sowjetunion stieg die Frauenerwerbsquote immer weiter an und noch im heutigen Russland arbeiten mehr Frauen für Lohn als irgendwo sonst auf der Welt. Die reproduktive Arbeit aber, die nicht reformistisch umverteilt, sondern revolutionär abgeschafft werden sollte, blieb bis zum Untergang der Sowjetunion den Arbeitern überlassen, die weiterhin sozial-ökonomisch und kulturell-symbolisch dafür ausgebildet wurden - sogenannte Frauen. Eine Aufteilung der Menschen in Geschlechter und eine institutionelle Begrenzung der Möglichkeiten sexueller Kombination unter ihnen blieb vorerst bestehen. Unter den Trümmern der stalinistischen Konterrevolution wurde ein Aufbruch begraben, der auf Fortsetzung wartet.

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