Wissen, was schon gewusst war

Otfried Höffe macht die großen Denker der Vergangenheit zu unseren Zeitgenossen

  • Hermann Klenner
  • Lesedauer: 6 Min.

In Zeiten und Ländern, in denen Religionsfundamentalismus und Ethnizismus, Nationalismus, Chauvinismus und Rechtspopulismus auf-trump-fen und in den USA, der Führungsmacht auch für die BRD, sich gerade die Bande zwischen Kapital und Staat personengebunden zu schließen scheinen, ist eine Rückbesinnung auf die Gipfeltheoretiker in der Geschichte des politischen Denkens angebracht wie selten zuvor. Auch weil postfaktische Politik, da wahrheitswidrig, zugleich eine posttheoretische ist. Von rechts bis links wird heute verdächtigt, wer sein politisches Verhalten weltanschaulich begründet.

Ohne allerdings auf Zusammenhänge dieser Art einzugehen, hat nun Otfried Höffe, einer der Produktivsten unter den deutschen Ideen-Historikern der Gegenwart und Gerechtigkeitstheoretiker überdies, die bedeutendsten Denker auf diesem Gebiet in zwölf Porträts, acht Miniaturen, nebst einigen Zwischenspielern, vorgestellt. Von vorne herein ausgeschlossen wurden die noch Lebenden. Porträtwürdig sind ihm Platon. Aristoteles, Cicero, Augustinus, Machiavelli, Hobbes, Locke, Rousseau, Kant, Hegel, Mill und Rawls; miniaturwürdig Abu Nasr al-Farabi, Thomas von Aquin, Dante, Marsilius, Spinoza, Hamilton, Marx und Nietzsche. Als Zwischenspieler agieren neben anderen: Thomas Morus, Montesquieu, Fichte, Max Weber und Carl Schmitt. Alles Männer also. Als ob nicht Mary Wollstonecraft, die »founding mother of utopian socialism«, oder Rosa Luxemburg sich wenigstens als Zwischenspielerinnen angeboten hätten.

Warum das vermutlich letzte Universalgenie, Leibniz ist gemeint, keine Aufnahme in die Pinakothek der großen Geister zugewiesen erhielt, ist hinterfragensbedürftig. Warum Spinoza, der »nobelste und liebenswerteste unter den großen Philosophen« (Bertrand Russell), und auch Karl Marx, selbst Thomas von Aquin, dessen philosophische Doktrin schon einmal im Kodex des Kirchenrechts eine für Katholiken verpflichtende Aufnahme fand, »bloß« als miniaturwürdig eingestuft wurden, Montesquieu und Fichte sogar noch weniger als dies, wird nicht begründet. Wo findet sich das Maß für die unterschiedlichen Gewichtungen? - Genug gemeckert.

Es ist jedenfalls ein weniger auf Studierbedürftigkeit denn auf Lesbarkeit und Verständlichkeit angelegtes Buch. Vorkenntnisse werden nicht erwartet; auf die Wiedergabe höchst komplizierter Philosophensätze wird weitgehend verzichtet; die Zahl der Zitate hält sich zum Vorteil der Leser in Grenzen. Der Verfasser ist wegen seiner Fähigkeit zu bewundern, Kompliziertestes unkompliziert darstellen zu können, einerseits auf Hegels »Anstrengung des Begriffs« nicht zu verzichten, andererseits aber den Leser nie verspüren zu lassen, wie anstrengend die Begriffe tatsächlich sind. Einbezogen werden die Lebensumstände der Denker; ihre Vor- wie ihre Nach-Denker; ihre Gedankenentwicklung, ausgehend von Fragestellungen bis hin zu den Antworten; ihre wichtigsten, eventuell auch bleibenden Erkenntnisse; ihre Gegenspieler; ihre Nachwirkungen sowie Meinungen ihrer heutigen Bewunderer und Kritiker bis hin zur Aktualität ihrer Auffassungen. Pädagogisch dosierte Lektüreempfehlungen runden das jeweilig Ganze ab. Die bewusste Nichtangabe von in Buchhandlungen und Bibliotheken leicht zugänglichen Editionen der genannten Werke sollte bei einer Zweitauflage aufgegeben werden.

Um die Vertracktheit des Unternehmens wenigstens an einem Beispiel zu belegen: Die literarische Hinterlassenschaft des Afrikaners Aurelius Augustinus (354 - 430 u. Z.) - vermutlich war er von Haus aus ein Berber - ist etwa dreimal so umfangreich wie die von Platon und Aristoteles zusammengenommen, die Literatur über ihn füllt ganze Bibliotheken, und in Würzburg gibt es ein eigenes ihm gewidmetes Zentrum. Das lässt ahnen, wie groß die Aufgabe und schließlich das Verdienst Höffes ist, diesen Autor unter anderem der zehn Bücher »Vom Gottesstaat« mit ihrem berühmt-berechtigten Verdammungsurteil - wenn es Königreichen an Gerechtigkeit fehlt, seien sie nichts anderes als Räuberbanden - angemessen zu bewerten, und das auf zwanzig Druckseiten!

Dass bei der Reichhaltigkeit des ausgebreiteten Gedankenmaterials nicht eine jede Einschätzung für einen jeden inhaltlich zustimmungsfähig ist, kann nicht verwundern und soll nicht als Kritik verstanden werden. Absolute Wahrheiten auf dem Felde des politischen Denkens sind selten und zumeist banal. Ohne Gegensätze funktioniert auch Theorie nicht. Dass etwa die einen Thomas Hobbes für einen Cheftheoretiker absolutistischen Staatskirchentums halten, während andere in ihm einen aufklärenden, zudem materialistischen Vernunfttheoretiker sehen, kann das Interesse, sich den Quellen zuzuwenden, nur anregen. Dass Rousseau von den einen als Vater der Moderne geehrt wird, während er für andere als Vater der Antimoderne gilt, ist in dessen Texten wie in den Gesellschaftszuständen seiner und unserer Zeit angelegt.

Was Marx anlangt, so sei ihm gewollter Weise etwas gelungen, was keinem anderen Philosophen gelungen sei, nämlich: eine Person von weltgeschichtlichem Rang zu werden. Allerdings habe er einerseits das Gewicht der Wirtschaft gegenüber dem von Staat und Recht ebenso wie die Macht der Theorie überschätzt und andererseits den Einfluss der Moral auf die Entwicklung der Menschheit unterschätzt. Auch habe er die Möglichkeiten gar nicht erst erwogen, durch die Rahmenbedingungen eines Sozialstaates den Wirtschaftsprozess zu kontrollieren und dessen schädliche Folgen für Lebens- und Umweltverhältnisse aufzufangen. Das sind gewiss ernstzunehmende, zum Teil auch berechtigte Einwände. Allerdings unterstellt Hoffe, dass Marx (dem er einen verkehrten Promotionsort zuweist) den Staat für ein Ausbeutungsinstrument in den Händen der Herrschenden gehalten habe, während dieser doch zwischen Ausbeutung und Unterdrückung kategorial, strukturell und personell unterschied. Als Lektüre wird von Höffe neben Marxens »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« aus dem Jahre 1844 (MEW, Bd. 40, als E-Book Hamburg 2005) übrigens auch das »Kommunistische Manifest« empfohlen.

Wer sich die Großdenker von ehemals zu porträtierten auflädt, der kann sich mit der musealen Verwaltung schöner Ideen samt gewesener Irrtümer begnügen. Oder er kann sich in den geistigen Auseinandersetzungen von heute auf die Denker von damals als auf Autoritäten stützen. Oder sich nicht davor scheuen, die heutigen Wahrheiten aus den Werken früherer Philosophen, Theologen und Soziologen herauszulesen. Indem Höffe die politische Gegenwart durch Einblicke in gewesene Kontraste und Gemeinsamkeiten besser zu verstehen beansprucht, woraus sich auch Diagnosen und Therapievorschläge ergeben, ist es sein unbescheidenes Ziel, die großen Vergangenheitsdenker zu unseren Zeitgenossen zu machen. Was nur zu begrüßen ist.

Das aber hätte freilich vorausgesetzt oder müsste wenigstens zur Folge haben, die ungeheuerlichen Gegensätze innerhalb der Weltgesellschaft von heute wenigstens ansatzweise zu unterbreiten: Kriege und Bürgerkriege ohne Ende; längst den Charakter von Völkerwanderungen angenommene Flüchtlingsströme; Hunger, Elend und Analphabetismus all überall; Massenarmut einerseits und Reichtumskonzentration in den Händen von Macht- und Gewalthabern andererseits. Ein Völkerrecht, das sich in den Händen der Großmächte zur Disziplinierung der Kleinmächte eignet. In einem Zeitalter der Globalisierung neokolonialistischer Verhältnisse nebst einer »America-First«-Apologie drohen Gedankenanalysen nebst schönen Ausblicken auf eine Weltrechtsordnung gleichberechtigter, ebenbürtiger, vorbildlich demokratischer Gemeinwesenden Charakter frommer Wünsche anzunehmen, wenn sie nicht mit dem Gegengewicht von Gesellschaftsanalysen konfrontiert werden.

Otfried Höffe: Geschichte des politischen Denkens. C.H. Beck. 416 S., geb., 27,95 €.

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