»Mit uns wird es keine Experimente geben«

Wahl von Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt zu Spitzenkandidaten schwächt Hoffnung auf Rot-Rot-Grün

  • Aert van Riel
  • Lesedauer: 5 Min.

Michael Kellner hat wenig geschlafen. Die Auszählung der Wahlzettel der Grünen-Mitglieder hat bis tief in die Nacht gedauert. Nun steht am Mittwochmorgen fest, wer die Partei als Spitzenkandidatenduo im Bundestagswahlkampf anführen wird. In einer Backsteinhalle der Uferstudios in Berlin-Wedding verkündet der Bundesgeschäftsführer vor Journalisten, dass Parteichef Cem Özdemir hauchdünn mit einem Vorsprung von genau 75 Stimmen vor dem schleswig-holsteinischen Umweltminister Robert Habeck liegt. Abgeschlagen dahinter rangiert der Fraktionsvorsitzende Anton Hofreiter, auf den etwas mehr als 26 Prozent der abgegebenen Stimmen entfallen. Für Kofraktionschefin Katrin Göring-Eckardt, die als einzige weibliche Bewerberin wegen der Frauenquote bereits als Spitzenkandidatin gesetzt war, votieren 70,6 Prozent der Grünen. Die Wahlbeteiligung liegt bei knapp 59 Prozent.

Keiner der Anwärter sei beschädigt, meint Kellner. Vielmehr hätten »alle Kandidaten an Statur und Profil gewonnen«. In Wahrheit sind die Parteilinken die großen Verlierer der Urwahl. Sie hatten mit Anton Hofreiter nur einen Kandidaten aufgestellt, weil sie fürchteten, dass sich zwei Bewerber gegenseitig die Stimmen wegnehmen könnten. Ansonsten kandidierten nur Vertreter des Realo-Flügels. Doch die Beliebtheit Hofreiters hält sich in der Parteibasis offensichtlich in Grenzen. Bis zur Bundestagswahl wird der Bayer wohl Fraktionsvorsitzender bleiben, muss aber im Wahlkampf Özdemir die große Bühne überlassen.

Wie es mit Habeck weitergeht, ist offen. Er will sich nicht um ein Abgeordnetenmandat bei der schleswig-holsteinischen Landtagswahl am 7. Mai bewerben. Nach seiner Niederlage gilt auch eine Kandidatur für den Bundestag auf einem vorderen Listenplatz als ausgeschlossen. Sollten die Grünen weiter in Kiel mitregieren, könnte der Norddeutsche dort erneut im Kabinett sitzen.

Özdemir und Göring-Eckardt betonen bei ihrem gemeinsamen Auftritt am Mittwochmittag, dass sie künftig auf Habeck setzen wollen. »Sein Ergebnis ist ein Hinweis darauf, dass er in der Partei eine wichtige Rolle spielen soll«, erklärt Özdemir. Er stimme außerdem mit Habeck in zentralen Fragen überein. Zuletzt war darüber spekuliert worden, ob der Schleswig-Holsteiner Parteichef werden könnte, wenn Özdemir nach der Bundestagswahl im Herbst als Vorsitzender abtreten und sich anderen Aufgaben in der Fraktionsführung oder in einer möglichen Bundesregierung widmen sollte.

Anders als in der Parteispitze, wo Özdemir immer wieder mit der Parteilinken und Koparteichefin Simone Peter aneinandergerät, sind vom Spitzenkandidatenduo keine großen inhaltlichen Differenzen zu erwarten. »Wir haben viele Schlachten gemeinsam geschlagen«, sagt Özdemir. Dabei lächelt er Göring-Eckardt an. Nun wollen sie im Wahlkampf insbesondere für Klimaschutz, eine »ökologisch erfolgreiche Wirtschaft« sowie für ein »Leben in Freiheit und Sicherheit«, also vor allem für eine massive Stärkung des Polizeiapparats, werben. Über soziale Gerechtigkeit reden die beiden Spitzenkandidaten nicht. Özdemir erklärt zwar, dass Kinderarmut der Vergangenheit angehören müsse. Doch dies will er vor allem durch mehr »Chancengerechtigkeit«, also bessere Ausbildungsmöglichkeiten, erreichen. Was mit den Menschen passiert, die trotzdem im harten Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt auf der Strecke bleiben, erwähnt Özdemir nicht.

Künftig ist eine konservativere Ausrichtung der Grünen zu erwarten. Das wird etwa deutlich, als Göring-Eckardt sich namentlich bei Winfried Kretschmann für dessen Unterstützung bedankt. »Wir freuen uns auf seine Mitarbeit im Wahlkampf«, betont die Fraktionsvorsitzende. Özdemir nickt. Der baden-württembergische Ministerpräsident ist bei linken Grünen umstritten, weil er im Bundesrat diverse Asylrechtsverschärfungen der schwarz-roten Bundesregierung unterstützt hat und mit sozialer Umverteilung nicht viel anfangen kann. Mit den Spitzenkandidaten versteht sich Kretschmann dagegen bestens. Parteiintern hatte er sich deutlich für Özdemir ausgesprochen. Das dürfte nicht nur in seinem Landesverband, der zu den mitgliederstärksten zählt, die Urwahl zugunsten von Özdemir beeinflusst haben.

Das Wahlergebnis des Parteivorsitzenden von fast 36 Prozent der abgegebenen Stimmen wirkt jedoch nicht überzeugend. Deutlich wird das mit Blick auf die absoluten Zahlen. 12 204 der insgesamt 60 808 Grünen-Mitglieder haben für Özdemir gestimmt. »Das ist zunächst einmal ein Sieg«, murmelt Özdemir ins Mikrofon, als er auf sein Ergebnis angesprochen wird. Und nur das zählt für ihn. Denn er hat einen steinigen Weg bei den Grünen hinter sich. Selbst in seiner baden-württembergischen Heimat waren viele Parteikollegen lange nicht von Özdemir überzeugt. Seine größte Niederlage musste der mittlerweile 51-Jährige beim Landesparteitag vor der Bundestagswahl 2009 hinnehmen, als er Abstimmungen über aussichtsreiche Listenplätze verlor. Nun hat es Özdemir bei den Grünen ganz nach oben geschafft.

Beim ersten gemeinsamen Auftritt als Spitzenkandidatenduo kristallisiert sich auch heraus, dass beide mit persönlichen Geschichten Sympathiepunkte sammeln wollen. Die Protestantin Göring-Eckardt wird sich im ökologischen Sinne für die »Bewahrung der Schöpfung« einsetzen und auf ihr Engagement in der DDR-Opposition verweisen. Auch heute geht es für die 50-Jährige um die »Verteidigung der Demokratie« und der »offenen Gesellschaft«.

Özdemir erzählt gerne von der türkischen Herkunft seiner Eltern und seinem Aufstieg als Arbeiterkind. Integration bezeichnet er heute mit Blick auf die vielen Geflüchteten, die nach Deutschland gekommen sind, als »Megaherausforderung«. Die Menschen müssten die Sprache lernen, sich an die Verfassung halten und eine Arbeit finden.

Eine Koalitionsaussage wollen die Spitzenkandidaten nicht machen. Es ist aber kein Geheimnis, dass beide eher mit der Union als mit der Linkspartei sympathisieren. Eine friedlichere und zurückhaltendere deutsche Außenpolitik dürfte mit ihnen nicht zu machen sein. »Mit uns wird es keine Experimente geben. Deutschland wird in der Außenpolitik ein verlässlicher Partner bleiben«, stellt Özdemir klar.

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