Das Versprechen von Pisa

»Samir, genannt Sam« - Mano Bouzamour erzählt die Geschichte eines Sohnes marokkanischer Einwanderer

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 3 Min.

Samir Zafar, genannt Sam, ist der Sohn einer marokkanischen Einwandererfamilie und wächst im multikulturellen, »heißen« Einwandererviertel »De Pijp« von Amsterdam auf. Seine Eltern sind 1974 als Gastarbeiter gekommen, haben sich aber nie richtig in die Gesellschaft integriert, sie sind Analphabeten geblieben. Das Leben des Vaters, inzwischen Rentner, spielt sich zwischen Moschee und marokkanischem Plätzchen-Backen ab, die Mutter überwacht mit Argusaugen die Kontakte Samirs und seiner Zwillingsschwestern. Sam wäre wahrscheinlich sehr einsam, hätte er nicht in seinem großen Bruder eine wichtige Bezugsperson. Mit dessen Vespa erkunden die beiden die Stadt. Durch den Bruder kennt Sam auch den grobschlächtigen, undurchsichtigen Soussi, der ihm eines Tages einen geklauten Markenflügel frei Haus liefert. Sam spielt nämlich, auch darin seinem großen Bruder nacheifernd, ausgezeichnet Klavier, am liebsten Chopin.

Das Milieu, in dem Sam aufwächst, ähnelt offensichtlich dem, das der Autor Mano Bouzamour aus eigenem Erleben kennt. Dieser autobiographische, somit authentische Roman ist spannend erzählt und geschickt konstruiert. Der Autor bedient sich allerdings einer Sprache und Denkweise, die herkömmlichem Schreiben provozierend entgegensteht, einer Sprache pubertärer Sensibilität und sexuell überspannten, ich-bezogenen, jugendlichen Straßenjargons. Das ist zwar nicht ganz neu, aber spätestens mit diesem Buch des bekannten Amsterdamer Musikers und Kolumnisten Bouzamour in der literarischen Legitimität angekommen - Kult ist es sowieso.

Kehren wir zu Sam zurück, den wir sechs Jahre lang, vom dreizehnten bis zum neunzehnten Lebensjahr, begleiten. Aber hier geht es nicht wie in entsprechenden klassischen Jugendromanen um die Befreiung von Eltern- oder Erzieher-Autorität, im Gegenteil: Der Fremde, der Marokkaner-Junge, muss sich einen Platz in der westlichen Gesellschaft erobern, was nicht weniger schwer und schmerzlich ist.

Der Roman beginnt mit dem letzten Schultag und dem Abitur Samirs an einem Amsterdamer Elitegymnasium. Zurückschauend erinnert er sich an die Aufnahme und den Beginn dort vor sechs Jahren, was alles andere als selbstverständlich gewesen war. Das hatte er vor allem seinem großen Bruder zu verdanken gehabt. »Versprichst du mir, dass du da weitermachst, wo ich aufgehört habe? Dass du in ein paar Jahren mit diesem verdammten Abizeugnis in den Händen aus dem Gymnasium rausspazierst?«, hatte der ihn damals gedrängt, wohl wissend, dass sein eigener Bildungsweg längst verpfuscht war.

»Das Versprechen von Pisa« hatte Sam dem Bruder damals in der Eisbar »Pisa« gegeben und sich dann später immer wieder daran erinnert, was vor allem mit den kurz darauf folgenden Ereignissen zu tun hatte. Genau dort war wenig später sein Bruder unter großem Polizeiaufgebot verhaftet worden. Wegen des Überfalls auf einen Geldtransporter und weiterer Delikte wurde der Bruder zu sechs Jahren Gefängnis ohne Bewährung verurteilt.

Die ungleichen Lebenswege zweier Brüder laufen auf tragische Weise nebeneinander her. Während der Bruder im Knast sitzt, von niemandem aus seiner Familie besucht, außer von Samir, sammelt dieser, hin- und hergerissen zwischen den unterschiedlichen Lebenswelten, Erfahrungen bei den Töchtern der Schönen und Reichen mit ihren Markenklamotten, Swimmingpools, schicken Ferienhäusern und noblen Restaurantbesuchen und der Langeweile ihrer Eltern, für die er ein Exot ist.

Sechs Jahre später werden beide Brüder »entlassen«. Der große Bruder sucht sich einen Job im Amsterdamer Rotlichtviertel, er schafft den Ausstieg aus der Halblegalität nicht. Aber Samir gelingt über Abitur und ein viel beachtetes Klavierkonzert der Weg in die bürgerliche Gesellschaft und zu weiteren Bildungsmöglichkeiten. Aus dem Slogan »In De Pijp sind wir heiß« wird für ihn: »In De Pijp sind sie heiß.« Das bedeutet den Ausstieg. Mano Bouzamours Roman ist witzig, hoffnungsvoll und melancholisch.

Mano Bouzamour: Samir, genannt Sam. Roman. Aus dem Niederländischen von Bettina Bach. Residenz Verlag. 296 S., geb., 22 €.

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