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  • Reportage - Argentinien

Argentiniens heimliche Herrscher

Streifzüge durch Mataderos: Das Fleischgeschäft ist die Messlatte für Wohl und Wehe des Landes

  • Antje Krüger
  • Lesedauer: ca. 6.0 Min.
Es ist früh um 5 Uhr. Die ersten Kühlwagen rollen durch menschenleere Straßen. Weißgekleidete Männer in Gummistiefeln, das Haar unter einer Kappe verborgen, öffnen die Türen der Kühlhäuser. Anweisungen werden laut und barsch über die Straße geworfen. Wie Ameisen kriechen die Männer, von der Last halber Rinder gebeugt, zwischen Lkw und Lagerhalle hin und her. Die weiße Kleidung ist bald rot beschmiert.
Auch der Bäcker an der Ecke öffnet seinen Laden um diese Zeit. »Gleich kommen sie alle, wirst sehen«, sagt er grinsend, warmes Brot in den Händen. Die Tür geht, ein Glöckchen bimmelt und ein blutbefleckter Mann nach dem anderen holt sich Medialunas und Facturas, süßes Gebäck, zum Frühstück. Man kennt sich, man grüßt sich. Der Umgangston ist herb und herzlich, doch viele Worte werden nicht gemacht. Die Behäbigkeit der Pampa herrscht über das Gespräch.
Alltagsszenen aus Mataderos, dem südöstlichen Randbezirk von Argentiniens Hauptstadt. Mataderos - der Name ist nicht gerade anheimelnd. Darin verbirgt sich das Wort »matar« - töten, schlachten. Mataderos wurden die Schlachthöfe genannt, die dem Viertel ihren Namen gaben.

Neu-Chicago in Buenos Aires
Der Mercado de Liniers, der weltgrößte Viehmarkt, liegt im Zentrum von Mataderos. Die hier ausgehandelten Fleischpreise gelten für das ganze Land und sind das Barometer argentinischer Befindlichkeit - wirtschaftlich, politisch, sozial. Um den Markt herum erstrecken sich ganze Straßenzüge voller Kühlhäuser, halbe Rinder hängen darin an Metallhaken. In der Sommerhitze zieht süßlicher Fleischgeruch durch die Luft.
1889 wurde der Grundstein für den ersten Schlachthof in Mataderos gelegt. Damals war die Stadt noch weit entfernt, das Stück Einöde vor ihren Toren hatte nicht einmal einen Namen. Doch kaum war der Grundstein gelegt, verkauften sich die Landstücke drum herum ohne Probleme, eine Straßenbahn wurde gebaut, die Wege wurden befestigt. Mataderos entwickelte sich in atemberaubender Geschwindigkeit. Der Name des Fußballklubs des Bezirks erinnert heute noch an diese Zeiten - Nueva Chicago, Neu-Chicago, benannt nach dem nordamerikanischen Zentrum der Fleischindustrie.
Für viele, die aus den Provinzen des Landes in die Hauptstadt reisten, um ihr Glück zu versuchen, wurde das Schlächterviertel zum Sprungbrett. »Als ich nach Buenos Aires kam«, erzählt Alejandro Carrizo, seit über 30 Jahren hier ansässig, »war die ganze Straße Lissandro de la Torre noch voller Gehege. Es gab keine Häuser hier, nur Kühe, wohin man auch sah.« Mit Pferden wurden sie durch die Straßen zum Schlachten getrieben. Fleisch, das übrigblieb, wurde sogar verschenkt. »Damals hatte man keine Probleme, eine Arbeit zu finden. Wenn es einem an der einen Stelle nicht gepasst hat, ging man eben woanders hin.« Und damals stank das auch noch richtig. Heute weht höchstens ein unangenehmes Lüftchen.
Mehr als 3000 Männer arbeiteten einst auf dem 34 Hektar großen Viehmarkt Liniers, heute sind es noch 120. Joaquin Quintaso, selbst bald 80, erinnert sich noch an die Erzählungen seines Vaters. »Man kam, suchte sich das Vieh aus, und dann wurde es vor den Augen der Käufer geschlachtet. Das Flüsschen Cildáñez, das heute unterirdisch verläuft, wurde damals der Bach des Blutes genannt, weil alle Schlachtabfälle dort reingeleitet wurden«, erzählt er. Doch seit der größte staatliche Fleischereibetrieb, benannt nach der gleichnamigen Straße Lissandro de la Torre, 1981 aus der Stadt hinaus verlegt wurde, siedelten sich auch die Schlachthöfe außerhalb der Hauptstadt an.
In Mataderos selbst wird das Fleisch nur noch verkauft - lebend - und später verarbeitet und gelagert. Gut 9000 Rinder werden täglich versteigert. Noch heute treiben die Gauchos auf Pferden das Vieh von den Transportern durch ein Labyrinth von Holzgattern. Bis zu 400 Lkw kommen täglich an.
Ein Reiterdenkmal vor den Toren des Marktes ehrt den Beruf des Reseros, des Viehtreibers. Im Markt selbst ziehen sich Laufstege aus Holz über das ganze Gelände. Von oben können Rinder, Schafe und Schweine in den Gehegen begutachtet werden, Einzelhändler ersteigern hier ihre Ware genauso wie Supermarktketten - im Sekundentakt. In nicht einmal 20 Minuten werden 800 Rinder verkauft zu gut 1000 Peso pro Tier (ca. 270 Euro). Stress, Hektik und Geschrei von 7.30 Uhr bis 10.30 Uhr morgens - dann haben die 9000 Tiere in den Gehegen neue Besitzer, ihr Weg zu den Schlachthöfen ist klar.

Ein Applaus dem Grillmeister
»Un aplauso para el asador« (Applaus dem Grillmeister), ruft jemand in die Runde, und alle klatschen. Der Grillmeister ist der Chefkoch Argentiniens, ein hoch geachteter und geehrter Könner seines Fachs. Über Stunden zieht sich das Asado, das Grillen, ob in Familie, mit Freunden oder auf Empfängen. Getafelt werden Salat, Brot und Fleisch, Fleisch in allen Varianten. Nichts weiter. Keine Saucen, kein Senf, nichts. Ein halbes Kilogramm Fleisch wird pro Person gerechnet, Innereien, Hühnchen, Chorizos (Paprikawürste) oder Schwein nicht mitgezählt. Denn Carne, Fleisch, bezeichnet nur eine Sorte - Rindfleisch.
Argentinien ist nicht etwa die Nation, in der am meisten Fleisch verzehrt wird, wohl aber diejenige mit dem größten Rindfleischkonsum. Bei 61,3 Kilogramm pro Kopf lag der Jahresverbrauch 2005. Die Vielfalt der verarbeiteten Fleischstücke ist so groß, dass es eines eigenen Wörterbuchs bedürfte. Das Fleisch bestimmt Argentiniens Identität und ist sein ganzer Stolz. »Im 19. Jahrhundert entstand das Bild Argentiniens als Fleischnation. Heute ist das Steak nicht nur Teil der täglichen Ernährung, sondern der Ausdruck des Wohlergehens der ganzen Bevölkerung«, sagt der Journalist Daniel Schavelzon.
Und noch - oder wieder - stehen die Lagerhäuser von Mataderos dicht an dicht, eine ganze Straße lang nur Fleischgeschäfte. Zu Krisenzeiten tun sich Lücken auf, doch geht es im Land wieder bergauf, preisen alle fünf Schritte neue Tafeln auf dem Gehweg die Ware an. Das Fleischgeschäft ist Argentiniens sichtbarste Messlatte für Wohl und Wehe im Land. Nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch im Dezember 2001 machte Kühlhausbesitzer Guillermo Santoni eine Erfahrung, die ihn zutiefst erschütterte. »Nie hat es hier an Fleisch gemangelt. Selbst die ärmsten Schlucker konnten sich ihr Steak grillen. Dass dies jetzt nicht mehr so ist, ist ein ernstes Zeichen«, sagt er. Anfang des Jahres 2006 wurde der Fleischpreis zur Regierungssache erklärt. Denn der Auftrieb um 28,3 Prozent lag weit über der Inflationsrate von 12,3 Prozent im Jahr 2005. Ein Grund dafür war der Export, der weniger Fleisch für das Land selbst übrig ließ. Die Regierung warf den Händlern jedoch auch Preistreiberei und Manipulation bei den Versteigerungen vor. Über Wochen war der Mercado de Liniers Schauplatz heftigen Streits zwischen Händlern, aufgebrachten Bürgern und Regierungsvertretern. Da hielten Gauchos auf ihren Pferden protestierende Arbeitslosenorganisationen davon ab, das Gelände zu stürmen.

Am Sonntag ist Gauchomarkt
»Magst du ein Choripan?«, fragt der Herr hinterm Grill und reicht eine Paprikawurst im Brot über den Tisch. Über 200 Kilo Fleisch bereitet er jeden Sonntag auf dem Rost zu. Holzkohle wird einfach auf dem Asphalt aufgeschüttet, die Menschen stehen Schlange. Mataderos' Bewohner feiern an den Wochenenden ausgelassen bei Wein und Unmengen an gegrilltem Rind. Seit 20 Jahren bauen des Sonntags mehr als 300 Künstler und Handwerker ihre Stände rund um das Viehtreiberdenkmal auf. Ton- und Lederwaren, Musikinstrumente und alte Reitutensilien machen den Markt zu einem lebendigen Museum. Der Bühne, einem simplen Brettersteg, ist nicht anzusehen, dass darauf schon sämtliche Stars der argentinischen Folkloremusik aufgetreten sind, für die Zuschauer gratis.
Getanzt wird auf der Straße, Chacarera und Zamba - in langer Reihe, die Frauen auf der einen Seite, die Männer auf der anderen. Alt und Jung, in Jeans oder Bombachas, den beigefarbenen Hosen der Gauchos, quirlen durcheinander. Reiter lenken ihre Pferde durch die Menge zum Wettkampf um den Ring. Gestreuter Sand verwandelt den Asphalt in eine Piste, am Ende hoch über den Köpfen eine Schnur mit einem Fingerring. Halb im Sattel stehend, spießen ihn die Reiter in vollem Galopp auf ein dünnes Messer. Applaus für die Stolzesten.
Sonntags wird der tägliche Überlebenskampf vergessen. Sonntags wird in Mataderos gesungen, getanzt, gegessen und getrunken bis ...

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