Die panische Angst der Kreditgeber

Der »uneingeschränkte U-Boot-Krieg« und der Nye-Report. Was trieb die USA in den Ersten Weltkrieg?

  • Kurt Wernicke
  • Lesedauer: ca. 5.5 Min.
Was wir gemeinhin Geschichte nennen, ist eine im Nachhinein entstandene Interpretation des Vorgefallenen. Trotz aller Ansprüche der Geschichtswissenschaftler an Objektivität war, ist und bleibt die Geschichtsschreibung durch den Standpunkt und die Intentionen der Historiker bestimmt. Da diese unterschiedlich sind, sind übereinstimmende Urteile bei der Bewertung von Vorgängen der Vergangenheit eher selten.

Zeitlücke Revolution
Eines dieser raren Beispiele für Konsens im Geschichtsbild, von links bis konservativ, ist die Einschätzung der Ursachen für den Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg: Auslöser für diesen als Hinwendung der USA zur Weltpolitik und »epochal« gewertete Entscheidung sei der vom deutschen Kaiserreich am 1. Februar 1917 vollzogene Übergang zum »uneingeschränkten U-Boot-Krieg« gewesen. Also zu einer deutschen Seekriegführung, die sich das Recht herausnahm, in einseitig deklarierten Sperrgebieten in Nordatlantik und Mittelmeer grundsätzlich jedes Schiff von ihren U-Booten ohne Warnung versenken zu lassen. Die USA hatten wiederholt davor gewarnt und gedroht, dies würde ernste Konsequenzen haben, weshalb 1915/16 der deutsche Admiralstab auf Drängen der Reichsregierung einen Rückzieher machte.
Tatsächlich brachen die USA unter Bezug auf den deutschen »uneingeschränkten« U-Boot-Einsatz am 3. Februar 1917 die diplomatischen Beziehungen zum Deutschen Reich ab. Das war aber noch nicht identisch mit einer Kriegserklärung. Es war ja nicht auszuschließen, dass auch diesmal wieder (wie 1915) der deutsche Rückzieher ein Vierteljahr auf sich warten ließe. Immerhin dauerte es zwei Monate, bis dann am 6. April mit der definitiven Kriegserklärung die Würfel endgültig fielen. Diese Zeitspanne hat das deutsche Geschichtsbild jeder Couleur bis dato galant übergangen.
Die vernachlässigte Zeitlücke findet eine einfache Erkärung: Sie enthebt der Notwendigkeit, ein in diese Zeit fallendes welthistorisch relevantes Ereignis in die Washingtoner Entscheidungsfindung einzubinden - die Revolution in Russland! Sie stürzte Mitte März 1917 (nach russischem Kalender: Februar) die zaristische Autokratie und ließ plötzlich die Möglichkeit einer revolutionären Beendigung des Weltkrieges als Vision aufscheinen. In Washington wie in London und Paris mussten die Politiker befürchten, vor zwei Alternativen zu stehen: erstens vor der drohenden Gefahr revolutionärer Erhebungen der kriegsmüden Massen mit unabsehbaren sozialen Folgen; zweitens vor einem Sonderfrieden Russlands mit den Deutschen und ihren Bundesgenossen, der deren bisher gegen Russland gebundenes Millionenheer für neue deutsche Offensiven im Westen freisetzen würde. Ein Niederringen Frankreichs durch die deutsche Militärmaschine, das im Spätsommer 1914 gedroht hatte und damals verhindert werden konnte, musste nun wieder ins Kalkül gezogen werden.

Wilsons Geständnis
Die USA hatten seit 1914 am europäischen Völkermorden nicht unbeträchtlich verdient. Ihre Exporte waren von 1913/14 zu 1916/17 nach Frankreich um über 630 Prozent, nach Großbritannien um mehr als das Dreifache gestiegen. Der Export nach Deutschland war allerdings entfallen - wegen der britischen Seeblockade, die deshalb auch in den USA ab und an wenigstens verbal als Verstoß gegen die »Freiheit der Meere« gerügt wurde, wenngleich wesentlich milder als der ebenfalls gegen diese Freiheit frevelnde uneingeschränkte U-Boot-Krieg. Angesichts ihrer enormen finanziellen Kriegslasten hatten die Entente-Mächte die amerikanischen Lieferungen nur auf Kreditbasis beziehen können, und diese Kredite streckten amerikanische Banken vor! Die im März 1917 immerhin ins Auge zu fassende Möglichkeit einer militärischen Niederlage der Entente musste daher bei den Kreditgebern panische Angst um den Verlust ihrer Anleihen auslösen.
Als US-Präsident Woodrow Wilson am 2. April 1917 vor dem Kongress den bevorstehenden Eintritt der USA in den Weltkrieg an der Seite der Entente begründete, war von einem wirtschaftlichen Motiv natürlich keine Rede. Stattdessen wurde die Gefährdung der moralischen Würde der Menschheit beschworen und von dem unabdingbaren Zwang gesprochen, sich »im Kampfe mit dem natürlichen Feind der Freiheit zu messen ... Die Welt muss sicher gemacht werden für die Demokratie. Ihr Friede muss auf die erprobten Grundmauern politischer Freiheit gestellt werden. Wir dienen keinen selbstsüchtigen Interessen. Wir gehen nicht auf Eroberung oder Herrschaft aus. Wir verlangen keine Entschädigung für uns selbst, keine materielle Ersatzleistung für die Opfer, an denen wir nicht zu sparen gedenken.«
Die moralische Entrüstung über den völkerrechtswidrigen uneingeschränkten U-Boot-Krieg als Anlass zum Kriegseintritt verlor ihren öffentlichen Stellenwert bereits am 19. August 1919. Da gestand der Demokrat Wilson - während der Debatte über den Versailler Frieden im US-Senat - im Kreuzfeuer drängender Fragen von republikanischen Senatoren, seine Regierung wäre auf jeden Fall in den Krieg eingetreten. Auf die Frage von Senator McCumber: »Denken Sie, wenn Deutschland keinen Akt kriegerischer Natur und keinen Akt der Ungerechtigkeit gegen unsere Bürger begangen hätte - dass wir dann in diesem Krieg gelandet wären?«, antwortete Wilson bejahend. Als McCumber zur Sicherheit nachhakte: »Sie meinen, wir wären in jedem Fall darin gelandet?« erhielt er die präzise Antwort : »Ja, das meine ich!«

Die Morgan-Bank
Der Hintergrund des von Wilson derart öffentlich zugestandenen Zugzwangs seiner Regierung zum Entscheid über das Eingreifen in das mörderische europäische Kriegstheater wurde jedoch 1919 noch nicht beim Namen genannt. Dies geschah erst während der ersten, 1933 bis 1936 währenden Präsidentschaft von Franklin D. Roosevelt, dessen auf einen »organisierten« Kapitalismus mit sozialem Antlitz zielende Politik des New Deal von den Konservativen, allen voran den Großkonzernen in Industrie und Bankwesen, wütend begeifert wurde. Roosevelt erzwang im April 1934 mit der Mehrheit seiner Demokratischen Partei im Senat die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, der sich mit dem Einfluss der amerikanischen Rüstungskonzerne auf die Washingtoner Politik im (Ersten) Weltkrieg zu beschäftigen hatte. Vorsitzender wurde geschickterweise ein Republikaner, Gerald P. Nye, der dem hartnäckigen Frager von 1919, McCumber, als Senator für Nord-Dakota gefolgt war.
Nach mehr als zweijähriger Tätigkeit legte der Ausschuss am 26. Juni 1936 seinen Bericht vor. Die Untersuchungen hatten sich auf die Rolle des New Yorker Bankhauses John Pierpont Morgan konzentriert, a priori ein dankbares Forschungsobjekt: Erstens hatte sie als eine von zwei Banken von einer nur diesen beiden bekannten Geheimklausel profitiert, die das 1914 verhängte regierungsamtliche Verbot von Krediten an die Kriegführenden ausgehöhlt hatte, und prompt 1916 eine 500-Millionen-Dollar-Anleihe zur Kreditvergabe an England und Frankreich aufgelegt; und zweitens war sie kräftig beteiligt an der Hetzkampagne gegen den New Deal.

Stöckers Enthüllung
Die als Nye-Report vorgelegten Erkenntnisse lieferten den schlagenden Beweis für die Einflussnahme des Bankhauses auf die amerikanische Politik zwischen 1914 und 1917. Dessen Finanzoperationen, stellte der Bericht fest, hätten der US-Regierung die Freiheit des politischen Entschlusses genommen und sie einseitig auf die Sache der Entente festgelegt.
Durch die Finanzierung und Förderung der Geschäfte mit den Alliierten habe Morgan eine »weit reichende Geschäftsaufblähung in fast allen Teilen der US-Wirtschaft« bewirkt, und geradezu die Gefahr einer grundstürzenden Wirtschaftskrise heraufbeschworen, falls die Entente durch die lange Dauer des Krieges oder gar eine militärische Niederlage ihre Schulden nicht begleichen könne.
Der Nye-Report verschwand bald in der Schublade. Seinen Inhalt vorweggenommen hatte übrigens eine im Deutschen Reichstag am 30. September 1921 getroffene Feststellung: Die Bankfürsten und Börsenkönige von New York seien die eigentlichen Sieger des Weltkrieges. Sie kam vom Sprecher der KPD-Fraktion Walter Stöcker und traf auf eisiges Schweigen aller anderen Fraktionen - sie liebäugelten n...

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