Kulturen kämpfen nicht

Der Schriftsteller Ilja Trojanow über Reisen zu Fuß, Religiosität und Rationalität

Vor zehn Tagen erhielt ILJA TROJANOW den »Berliner Literaturpreis 2007«. Wie der viktorianische Entdecker Sir Richard Francis Burton (1821-1890), Held seines im vergangenen Jahr erschienenen großen Romans »Der Weltensammler«, ist auch er ein »Weltensammler« - und vor allem ein Weltbürger im klassischen Sinne des Wortes. Mit dem Schriftsteller sprach unser Münchner Autor ADELBERT REIF.

ND: Herr Trojanow, Sie gelten als einer der wenigen Weltbürger der deutschsprachigen Literatur. Was bewegt Sie beständig fort?
Trojanow: Ein Flüchtling wird immer bewegt. Er wird in eine Rastlosigkeit hineingeworfen, die er sich nicht ausgesucht hat.
Von Kindheit an erschien mir die Vielsprachigkeit als eine Selbstverständlichkeit. Homogenität betrachtete ich als Absurdität. Aufgrund dieser Prägungen leide ich an einer Art kultureller Klaustrophobie: Ich werde immer sehr unruhig, wenn ich mich zu lange an einem Ort aufhalte.

Der Titel Ihres Romans »Der Weltensammler« trifft auch auf Sie selbst zu. Wie »sieht« man die Welt, wenn man sie mit beträchtlichem Zeitaufwand bereist?
Bei meiner Vorarbeit zu diesem Buch recherchierte ich nicht nur die Fakten, sondern versuchte, auch die Bewegung und die Geschwindigkeit nachzuempfinden. Deswegen war es für mich so wichtig, Richard Burtons Reisen zu Fuß nachzugehen. Die Wahrnehmung veränderte sich dadurch extrem. Wenn man zu Fuß geht, sieht man anders. Man sieht gleichsam mit dem ganzen Körper, während man aus einem Auto oder einem Zug heraus nur mit den Augen sieht. Jede Form der technischen Entfremdung beeinflusst unsere Wahrnehmung und zugleich die Weise, wie andere uns wahrnehmen.

Wird man anders wahrgenommen, wenn man zu Fuß reist?
Die Menschen reagieren abhängig davon, wie man in ihre Wahrnehmungssphäre eintritt. Wenn man in einem afrikanischen Dorf mit einem großen Jeep vorfährt, verhalten sich die dort lebenden Menschen ganz anders, als wenn man, zu Fuß aus der Steppe kommend, plötzlich in ihr Gesichtsfeld tritt. Die Frage, was Fremde ist und wie man Fremde wahrnimmt, basiert in sehr hohem Maße darauf, wie einem diese Fremde entgegentritt.

Sie haben sich in Bombay insbesondere mit der hinduistischen Welt auseinandergesetzt. Inwieweit entspricht die westliche Wahrnehmung dieser Welt den Gegebenheiten vor Ort?
Die westliche Wahrnehmung des Hinduismus war von Anfang an sehr märchenhaft, theatralisch, vielleicht sogar operettenhaft geprägt. Schon die Griechen fühlten sich von den vielen Ebenen der indischen religiösen Ausübung, der Verschachtelung der Mythen etc. offensichtlich überfordert. Deswegen stellten sie Indien als ein Land der Wunder, der Magie, der Übertreibungen dar. Das hat sich bis zum heutigen Tag nicht geändert. Auf der anderen Seite führte dieses schillernde und flimmernde hinduistische Indien zu einem weiteren Missverständnis, nämlich dem eines friedlichen Indiens, was im 20. Jahrhundert besonders stark auf das Wirken von Mahatma Gandhi zurückzuführen war. In Wirklichkeit ist das gewaltfreie Leben nur eine von vielen verschiedenen Traditionen Indiens.

Wie sieht es denn umgekehrt aus? Wie nimmt die hinduistische Welt den Westen wahr?
In der hinduistischen Welt differenzieren die Gebildeteren sehr stark zwischen Briten und Deutschen. Die Briten werden als die ehemaligen Kolonialherren äußerst kritisch gesehen, während die Deutschen einen außergewöhnlich guten Ruf genießen. Man weiß in Indien, dass Goethe, Schlegel, Rückert und viele andere dem indischen Geist sehr verbunden waren und dass die deutsche Indologie über Jahrhunderte die führende in der Welt war. Sie bietet ein vorbildliches Beispiel für eine gelungene kulturelle Transferleistung. Ich denke dabei an Max Müller. Wenn heute ein gläubiger Hindu ein heiliges Buch aufschlägt, dann trifft er auf einen Text, der von Max Müller kodifiziert wurde. Das beweist, dass die These, man könne in fremde Kulturen nicht eindringen, unrichtig ist.

2003 unternahmen Sie eine Pilgerreise nach Mekka und Medina. Gerade westliche Wahrnehmung des Islams ist von Missverständnissen geprägt. Worauf führen Sie diese verkürzte Wahrnehmung zurück?
Der Islam ist schon sehr früh in den Westen gekommen. Der westlichste Punkt Europas, nämlich Iberien, war 800 Jahre islamisch und auch der Balkan stand viele Jahrhunderte unter islamischer Herrschaft. Dadurch zieht sich dieser Mythos, der Islam sei aggressiv, durch die gesamte Geschichte.
Wie man die aggressiven Seiten des Hinduismus im Westen geflissentlich übersieht, übersieht man die friedlichen Seiten des Islams, etwa die große Tradition des Sufismus. Im Strom der islamischen Richtungen ist sie wahrscheinlich die bedeutendste im Sinne von kulturellen Errungenschaften auf den Gebieten der Architektur, der Kalligraphie, der Poesie und der Musik. Aber diese Tradition kam im Westen nie richtig an. Das heißt, der Teil des Islams, der den heutigen westlichen Vorstellungen vom Islam geradezu entgegengesetzt ist, wird völlig negiert.

Wie erklären Sie sich ein solches Phänomen?
Ein Grund liegt sicher darin, dass der Islam in der Geschichte mehrfach ein politisch äußerst ernst zu nehmender Kontrahent war. Angefangen bei den Kreuzrittern, die von Saladin besiegt wurden, bis hin zur mächtigen Sowjetarmee, die in Afghanistan von den Mujaheddin geschlagen wurde, haben diese »Niederlagen« den Westen traumatisiert. Und die innere Widersprüchlichkeit der westlichen Verhaltensweise gegenüber dem Islam wird unter anderem darin erkennbar, dass der Westen viele der islamischen Länder noch bis vor 20 Jahren hofiert hat.
Ich kann mich gut daran erinnern, wie Jürgen Todenhöfer an der Universität in München einen Vortrag hielt und von den in Afghanistan gegen die Sowjets kämpfenden Mujaheddin schwärmte. In den glühendsten Farben stellte er genau das dar, was ihnen heute vorgeworfen wird: Kampf bis zum Tod. Wir haben es hier mit einer allgegenwärtigen Verknappung der Wahrnehmung zu tun.

In welchem Maße schlägt dieses verknappte Bild auf die Wahrnehmung des Westens in der islamischen Welt zurück?
Die von der westlichen Presse vielfach kolportierte Behauptung, die von Muslimen ausgeführten Selbstmordattentate hätten überhaupt nichts damit zu tun, wie sich bestimmte Länder des Westens gegenüber der muslimischen Welt verhalten, ist Unsinn. In der muslimischen Welt wird sehr wohl wahrgenommen, wenn beispielsweise amerikanische Soldaten ein afghanisches Dorf bombardieren. Das wird in einer Art und Weise in der gesamten islamischen Welt beachtet, von der wir uns keinen Begriff machen können, weil uns die Vorstellung einer Gemeinschaft der Gläubigen fremd ist. Von daher haben wir schon rein psychologisch ein Problem damit, zu verstehen, wieso diese Menschen, die wir im Fernsehen sehen, sich so wild gebärden. Wir können ihre Wut und ihre Empörung einfach nicht nachvollziehen.

Würden Sie der These zustimmen, dass sich die Welt allein mit westlicher Rationalität nicht fassen lässt?
Dieser These würde ich voll zustimmen. Rationalität ist auch nur eine weitere Illusion oder sogar ein Irrglaube, wenn sie so belastet wird, dass man meint, mit ihr alles erklären zu können. Schon in der Antike gab es viele Denker, die keinen Widerspruch sahen zwischen Rationalität und anderen Elementen wie zum Beispiel Empathie, Spiritualität und Instinkt.
Ich habe den Eindruck, dass wir allmählich Wahrnehmungsformen wiederentdecken, die lange Zeit verpönt waren. So gibt es etwa psychologische Untersuchungen, die versuchen, den Instinkt als etwas extrem Wichtiges für die menschliche Existenz zu erklären.

Könnte die Grundursache des Konflikts zwischen islamischer und westlicher Welt gerade in diesem Mangel an solchen anderen Wahrnehmungsformen liegen?
Nein. Das halte ich für eine bewusst herbeigeführte Ablenkung. Die wahren Ursachen sind natürlich Macht und Geld. Gewiss wird der Konflikt durch kulturelle Differenzen verschärft, aber die sind eine Frage der Wahrnehmung. In jeder besseren Sonntagsrede wird heute von der judäo-christlichen Tradition gesprochen. Noch vor 60 Jahren wäre das eine Provokation gewesen. Das heißt, wenn sich die Zeiten einmal ändern, können Stimmen laut werden, die dazu auffordern, uns auf unsere judäo-christlich-islamische Tradition zu besinnen, weil wir uns von den Hindus oder Chinesen absetzen müssen. Es ist alles eine Frage der Manipulation und der Definition.

Sie führen als Gründe für Konflikte vorwiegend materielle Ursachen an. Gibt es nicht aber auch kulturelle Ursachen?
Sie spielen auf die These vom »Kampf der Kulturen« an. Diesen Kampf gibt es nicht, hat es nie gegeben. Eine Erfindung. Kulturen kämpfen per se nicht gegeneinander. Im Gegenteil, sie beeinflussen einander. Wir hätten überhaupt keine Zivilisation, wenn wir nicht in einem Strom der ständigen Zuflüsse schwimmen würden. Denken Sie an die deutsche Literatur: Schon ihre ersten Anfänge zur Zeit der Minnesänger weisen arabische, jüdische, provenzalische Einflüsse auf. Das reicht hinein bis in unsere Gegenwart. Überall stoßen wir auf Vermengungen und Vermischungen. So entsteht Kultur.

Wenn Sie ein Fazit ziehen müssen: Was bedeutet die Globalisierung für die Kulturen der von Ihnen bereisten Erdteile?
Das ist ein sehr komplexes Thema. Allein dass behauptet wird, es gebe eine Globalisierung, stimmt in dieser Festschreibung nicht. Nehmen wir den Indischen Ozean. Er war in der Vergangenheit eine Brücke zwischen Indien und Mosambik. Zehntausende kleiner Schiffe fuhren frei hin und her, der Handel blühte. Heute ist es für einen Mosambikaner absolut undenkbar, nach Indien zu gelangen. Dazu würde er einen Pass, ein Visum und dergleichen mehr benötigen. Und gerade am Beispiel der Afrikaner, die nach Europa einreisen wollen und daran von der Europäischen Union gehindert werden, kann man sehen, wie wenig Globalisierung wir in Wirklichkeit haben.

Ilja Trojanow, 1965 in Sofia geboren, 1971 mit den Eltern über Jugoslawien geflohen, wuchs in Nairobi auf, wo er zehn Jahre lebte. Er studierte Ethnologie und Jura in München. 1999 zog er nach Indien, von dort ging er nach Südafrika. Zu seinen wichtigsten Büchern gehören »Die Welt ist groß und Rettung lauert überall«, »Hundezeiten«, »An den inneren Ufern Indiens«, »Zu den heiligen Quellen des Islam«. Im Mai erscheint bei Eichborn sein neues Buch: »Nomade auf vier Kontinenten. Auf den Spuren von Sir Richard Francis Burton«.ND: Herr Trojanow, Sie gelten als einer der wenigen Weltbürger der deutschsprachigen Literatur. Was bewegt Sie beständig fort?
Trojanow: Ein Flüchtling wird immer bewegt. Er wird in eine Rastlosigkeit hineingeworfen, die er sich nicht ausgesucht hat.
Von Kindheit an erschien mir die Vielsprachigkeit als eine Selbstverständlichkeit. Homogenität betrachtete ich als Absurdität. Aufgrund dieser Prägungen leide ich an einer Art kultureller Klaustrophobie: Ich werde immer sehr unruhig, wenn ich mich zu lange an einem Ort aufhalte.

Der Titel Ihres Romans »Der Weltensammler« trifft auch auf Sie selbst zu. Wie »sieht« man die Welt, wenn man sie mit beträchtlichem Zeitaufwand bereist?
Bei meiner Vorarbeit zu diesem Buch recherchierte ich nicht nur die Fakten, sondern versuchte, auch die Bewegung und die Geschwindigkeit nachzuempfinden. Deswegen war es für mich so wichtig, Richard Burtons Reisen zu Fuß nachzugehen. Die Wahrnehmung veränderte sich dadurch extrem. Wenn man zu Fuß geht, sieht man anders. Man sieht gleichsam mit dem ganzen Körper, während man aus einem Auto oder einem Zug heraus nur mit den Augen sieht. Jede Form der technischen Entfremdung beeinflusst unsere Wahrnehmung und zugleich die Weise, wie andere uns wahrnehmen.

Wird man anders wahrgenommen, wenn man zu Fuß reist?
Die Menschen reagieren abhängig davon, wie man in ihre Wahrnehmungssphäre eintritt. Wenn man in einem afrikanischen Dorf mit einem großen Jeep vorfährt, verhalten sich die dort lebenden Menschen ganz anders, als wenn man, zu Fuß aus der Steppe kommend, plötzlich in ihr Gesichtsfeld tritt. Die Frage, was Fremde ist und wie man Fremde wahrnimmt, basiert in sehr hohem Maße darauf, wie einem diese Fremde entgegentritt.

Sie haben sich in Bombay insbesondere mit der hinduistischen Welt auseinandergesetzt. Inwieweit entspricht die westliche Wahrnehmung dieser Welt den Gegebenheiten vor Ort?
Die westliche Wahrnehmung des Hinduismus war von Anfang an sehr märchenhaft, theatralisch, vielleicht sogar operettenhaft geprägt. Schon die Griechen fühlten sich von den vielen Ebenen der indischen religiösen Ausübung, der Verschachtelung der Mythen etc. offensichtlich überfordert. Deswegen stellten sie Indien als ein Land der Wunder, der Magie, der Übertreibungen dar. Das hat sich bis zum heutigen Tag nicht geändert. Auf der anderen Seite führte dieses schillernde und flimmernde hinduistische Indien zu einem weiteren Missverständnis, nämlich dem eines friedlichen Indiens, was im 20. Jahrhundert besonders stark auf das Wirken von Mahatma Gandhi zurückzuführen war. In Wirklichkeit ist das gewaltfreie Leben nur eine von vielen verschiedenen Traditionen Indiens.

Wie sieht es denn umgekehrt aus? Wie nimmt die hinduistische Welt den Westen wahr?
In der hinduistischen Welt differenzieren die Gebildeteren sehr stark zwischen Briten und Deutschen. Die Briten werden als die ehemaligen Kolonialherren äußerst kritisch gesehen, während die Deutschen einen außergewöhnlich guten Ruf genießen. Man weiß in Indien, dass Goethe, Schlegel, Rückert und viele andere dem indischen Geist sehr verbunden waren und dass die deutsche Indologie über Jahrhunderte die führende in der Welt war. Sie bietet ein vorbildliches Beispiel für eine gelungene kulturelle Transferleistung. Ich denke dabei an Max Müller. Wenn heute ein gläubiger Hindu ein heiliges Buch aufschlägt, dann trifft er auf einen Text, der von Max Müller kodifiziert wurde. Das beweist, dass die These, man könne in fremde Kulturen nicht eindringen, unrichtig ist.

2003 unternahmen Sie eine Pilgerreise nach Mekka und Medina. Gerade westliche Wahrnehmung des Islams ist von Missverständnissen geprägt. Worauf führen Sie diese verkürzte Wahrnehmung zurück?
Der Islam ist schon sehr früh in den Westen gekommen. Der westlichste Punkt Europas, nämlich Iberien, war 800 Jahre islamisch und auch der Balkan stand viele Jahrhunderte unter islamischer Herrschaft. Dadurch zieht sich dieser Mythos, der Islam sei aggressiv, durch die gesamte Geschichte.
Wie man die aggressiven Seiten des Hinduismus im Westen geflissentlich übersieht, übersieht man die friedlichen Seiten des Islams, etwa die große Tradition des Sufismus. Im Strom der islamischen Richtungen ist sie wahrscheinlich die bedeutendste im Sinne von kulturellen Errungenschaften auf den Gebieten der Architektur, der Kalligraphie, der Poesie und der Musik. Aber diese Tradition kam im Westen nie richtig an. Das heißt, der Teil des Islams, der den heutigen westlichen Vorstellungen vom Islam geradezu entgegengesetzt ist, wird völlig negiert.

Wie erklären Sie sich ein solches Phänomen?
Ein Grund liegt sicher darin, dass der Islam in der Geschichte mehrfach ein politisch äußerst ernst zu nehmender Kontrahent war. Angefangen bei den Kreuzrittern, die von Saladin besiegt wurden, bis hin zur mächtigen Sowjetarmee, die in Afghanistan von den Mujaheddin geschlagen wurde, haben diese »Niederlagen« den Westen traumatisiert. Und die innere Widersprüchlichkeit der westlichen Verhaltensweise gegenüber dem Islam wird unter anderem darin erkennbar, dass der Westen viele der islamischen Länder noch bis vor 20 Jahren hofiert hat.
Ich kann mich gut daran erinnern, wie Jürgen Todenhöfer an der Universität in München einen Vortrag hielt und von den in Afghanistan gegen die Sowjets kämpfenden Mujaheddin schwärmte. In den glühendsten Farben stellte er genau das dar, was ihnen heute vorgeworfen wird: Kampf bis zum Tod. Wir haben es hier mit einer allgegenwärtigen Verknappung der Wahrnehmung zu tun.

In welchem Maße schlägt dieses verknappte Bild auf die Wahrnehmung des Westens in der islamischen Welt zurück?
Die von der westlichen Presse vielfach kolportierte Behauptung, die von Muslimen ausgeführten Selbstmordattentate hätten überhaupt nichts damit zu tun, wie sich bestimmte Länder des Westens gegenüber der muslimischen Welt verhalten, ist Unsinn. In der muslimischen Welt wird sehr wohl wahrgenommen, wenn beispielsweise amerikanische Soldaten ein afghanisches Dorf bombardieren. Das wird in einer Art und Weise in der gesamten islamischen Welt beachtet, von der wir uns keinen Begriff machen können, weil uns die Vorstellung einer Gemeinschaft der Gläubigen fremd ist. Von daher haben wir schon rein psychologisch ein Problem damit, zu verstehen, wieso diese Menschen, die wir im Fernsehen sehen, sich so wild gebärden. Wir können ihre Wut und ihre Empörung einfach nicht nachvollziehen.

Würden Sie der These zustimmen, dass sich die Welt allein mit westlicher Rationalität nicht fassen lässt?
Dieser These würde ich voll zustimmen. Rationalität ist auch nur eine weitere Illusion oder sogar ein Irrglaube, wenn sie so belastet wird, dass man meint, mit ihr alles erklären zu können. Schon in der Antike gab es viele Denker, die keinen Widerspruch sahen zwischen Rationalität und anderen Elementen wie zum Beispiel Empathie, Spiritualität und Instinkt.
Ich habe den Eindruck, dass wir allmählich Wahrnehmungsformen wiederentdecken, die lange Zeit verpönt waren. So gibt es etwa psychologische Untersuchungen, die versuchen, den Instinkt als etwas extrem Wichtiges für die menschliche Existenz zu erklären.

Könnte die Grundursache des Konflikts zwischen islamischer und westlicher Welt gerade in diesem Mangel an solchen anderen Wahrnehmungsformen liegen?
Nein. Das halte ich für eine bewusst herbeigeführte Ablenkung. Die wahren Ursachen sind natürlich Macht und Geld. Gewiss wird der Konflikt durch kulturelle Differenzen verschärft, aber die sind eine Frage der Wahrnehmung. In jeder besseren Sonntagsrede wird heute von der judäo-christlichen Tradition gesprochen. Noch vor 60 Jahren wäre das eine Provokation gewesen. Das heißt, wenn sich die Zeiten einmal ändern, können Stimmen laut werden, die dazu auffordern, uns auf unsere judäo-christlich-islamische Tradition zu besinnen, weil wir uns von den Hindus oder Chinesen absetzen müssen. Es ist alles eine Frage der Manipulation und der Definition.

Sie führen als Gründe für Konflikte vorwiegend materielle Ursachen an. Gibt es nicht aber auch kulturelle Ursachen?
Sie spielen auf die These vom »Kampf der Kulturen« an. Diesen Kampf gibt es nicht, hat es nie gegeben. Eine Erfindung. Kulturen kämpfen per se nicht gegeneinander. Im Gegenteil, sie beeinflussen einander. Wir hätten überhaupt keine Zivilisation, wenn wir nicht in einem Strom der ständigen Zuflüsse schwimmen würden. Denken Sie an die deutsche Literatur: Schon ihre ersten Anfänge zur Zeit der Minnesänger weisen arabische, jüdische, provenzalische Einflüsse auf. Das reicht hinein bis in unsere Gegenwart. Überall stoßen wir auf Vermengungen und Vermischungen. So entsteht Kultur.

Wenn Sie ein Fazit ziehen müssen: Was bedeutet die Globalisierung für die Kulturen der von Ihnen bereisten Erdteile?
Das ist ein sehr komplexes Thema. Allein dass behauptet wird, es gebe eine Globalisierung, stimmt in dieser Festschreibung nicht. Nehmen wir den Indischen Ozean. Er war in der Vergangenheit eine Brücke zwischen Indien und Mosambik. Zehntausende kleiner Schiffe fuhren frei hin und her, der Handel blühte. Heute ist es für einen Mosambikaner absolut undenkbar, nach Indien zu gelangen. Dazu würde er einen Pass, ein Visum und dergleichen mehr benötigen. Und gerade am Beispiel der Afrikaner, die nach Europa einreisen wollen und daran von der Europäischen Union gehindert werden, kann man sehen, wie wenig Globalisierung wir in Wirklichkeit haben.

Ilja Trojanow, 1965 in Sofia geboren, 1971 mit den Eltern über Jugoslawien geflohen, wuchs in Nairobi auf, wo er zehn Jahre lebte. Er studierte Ethnologie und Jura in München. 1999 zog er nach Indien, von dort ging er nach Südafrika. Zu seinen wichtigsten Büchern gehören »Die Welt ist groß und Rettung lauert überall«, »Hundezeiten«, »An den inneren Ufern Indiens«, »Zu den heiligen Quellen des Islam«. Im Mai erscheint bei Eichborn sein neues Buch: »Nomade auf vier Kontinenten. Auf den Spuren von Sir Richard Francis Burton«.

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