Der Panthersprung

Norbert Raeder kämpft für das graue Label - weil Deutschland »wieder einen Plan braucht«

  • Christina Matte
  • Lesedauer: ca. 10.0 Min.
Die Abgeordnetenhauswahl im September 2006 bescherte Berlin eine Überraschung. Eine Partei, die auf der politischen Bühne der Hauptstadt bislang keine Rolle gespielt und mit der niemand gerechnet hatte - plötzlich war sie da. Nein, ins Abgeordnetenhaus schafften es »Die Grauen/Graue Panther« nicht, aber in acht Stadtbezirksparlamente, in drei davon mit Fraktionsstärke! Bundesvorsitzende Trude Unruh soll am Telefon, als sie es erfuhr, vor Freude geweint haben. Seitdem ist im Vorstand der Grauen von der »grauen Revolution« und vom »Panthersprung« die Rede. Der Panthersprung hat einen Namen: Norbert Raeder. Raeder ist seit vier Jahren Berliner Landesvorsitzender der Partei. Und: Er ist erst 38. Schon im zarten Alter von 24 schloss er sich den »Grauen« an - was damals allseits Verwunderung auslöste: Was wollte ein so junger Spund bei den Greisen? Raeder hat es seither oft erklärt: Bei einem Seniorentanztee in der Weddinger Diskothek, in der er arbeitete, erfuhr er »von den Problemen, die alte Leute haben«. Und weil er nicht verstand, warum alte Leute nach einem arbeitsreichen Leben solche Probleme haben müssen, weil sie mit nur 150 bis 300 Euro Rente nicht wissen, wie sie ihre Miete bezahlen sollen, trat er ein. Um mit ihnen gemeinsam etwas zu ändern. Heute wundert sich keiner mehr. Raeder hat 53 000 Berliner überzeugt - so viele gaben den »Grauen« die Stimme. »Die Generationen«, sagt er, »müssen zusammenhalten. Nur gemeinsam kommen wir weiter.« Wenn Demographen, Medien und »die großen Parteien« wieder einmal den Teufel an die Wand malen und den Krieg der Generationen beschwören, möchte er »aus der Haut fahren«: »Wir lassen uns nicht aufeinanderhetzen. Ich führe doch nicht Krieg gegen meine Oma! Wir kämpfen doch nicht gegen unsere Großeltern.« Das Erstaunliche: Nicht nur Alte hören diese Worte gern. Auch viele Jüngere stehen inzwischen dahinter. Das Durchschnittsalter der Berliner »Grauen«, deren Mitgliederzahl vor zehn Jahren noch bei zwei Dutzend dahindümpelte und nun auf 700 anstieg, liegt heute bei 38. Damit wäre Raeder der Durchschnitts-Graue. Allerdings nur statistisch gesehen. Wir sind im Landesbüro seiner Partei in der Reinickendorfer Residenzstraße verabredet. Es misst nur zwölf Quadratmeter; Raum ist in der kleinsten Hütte, aber nicht viel. Er verweist auf bescheidene Mittel. »Dass wir mit dem wenigen Geld, das uns zur Verfügung stand, solch eine Welle geschlagen haben, zeigt doch: Der Kleene kann es schaffen - David gegen Goliath.« Raeder ist ein großgewachsener, kräftiger Mann. Und er berlinert, was das Zeug hält. Schon seit einer Ewigkeit trägt er eine Vokuhila-Frisur - vorne kurz, hinten lang, nicht gerade Establishment. Die Haartracht lässt er sich von »Mutter« schneiden - wer seiner Mutter derart vertraut und nicht Krieg gegen die Oma führen will, der muss es zu Hause gut gehabt haben. »Ja«, sagt er, »meine Oma ist prima. Genauso prima wie meine Eltern. Sie sind zwar schon seit Jahren geschieden, aber sie sehen sich jeden Tag, und wir feiern zusammen Weihnachten. Sollte ich also mal Mist bauen, kann ich mich nicht mit einer schlechten Kindheit herausreden.« Er hat nicht vor, Mist zu bauen. Jetzt erst recht nicht. Seit der Wahl ist er auch Fraktionsvorsitzender der »Grauen« in der Bezirksverordnetenversammlung Reinickendorf. Seitdem parkt er nicht mehr falsch und geht auch nicht mehr bei Rot über die Straße - »man muss versuchen, in allem Vorbild zu sein«. Da er gastfreundlich und zu älteren Leuten grundsätzlich nett ist, verlegt er unseren Termin kurzerhand aus dem unkomfortablen Parteibüro in die nur zehn Schritte entfernte Gaststätte »Kastanienwäldchen«. Auch hier ist er der Chef: Das »Kastaniewäldchen« gehört ihm. Eine junge Serviererin, die nicht nur dann freundlich zu Gästen ist, wenn der Chef in der Nähe ist (wovon ich mich überzeugen konnte, weil ich eine halbe Stunde zu früh war), bietet an, Kaffee, Tee oder Wasser zu bringen. »Wir leben das, wofür wir stehen«, schwärmt Raeder. »Würde ich für ein halbes Jahr probeweise einen Jungen und einen Alten auf die- selbe Stelle setzen und dann demjenigen den Arbeitsplatz geben, der sich als der vermeintlich Bessere herausstellt, würden die sich in die Haare kriegen, ist doch klar. Das findet bei mir nicht statt. Wir brauchen sowohl die Power der Jugend als auch die Erfahrung der Älteren.« Sein Team sei paritätisch gemischt, es funktioniere wunderbar. »Weil man zurückbekommt, was man gibt.« Eigentlich möchte ich mich mit ihm über die Sci-fi-Dokumentation »Aufstand der Alten« unterhalten, die gerade im ZDF lief. Ein fiktiver Vorausblick ins Deutschland von 2030. Ein wahrscheinliches Szenarium? Raeder passt. Er konnte den Film leider nicht sehen, weil er »abends noch so lange in der BVV war«. Unbekümmert schlägt er vor: »Erzählen Sie einfach, worum es ging, dann sage ich Ihnen meine Meinung.« Nun denn, ganz knapp zusammengefasst: Ein Junger muss im Jahr 2030 für einen Alten aufkommen. Während sich die reichen Alten in Wellness-Oasen regenieren, muss ein armer Alter im Monat mit 560 Euro Rente auskommen. Davon kann er keine Miete bestreiten. Legionen von obdachlosen Alten nächtigen im Schillertheater, das längst den Spielbetrieb eingestellt hat: Kulturförderung ist abgeschafft. Alte brechen in Apotheken ein, um an Medikamente zu kommen, die sie sich nicht mehr leisten können. Wer schon bettlägerig ist, wird auf Pflegestationen, die an Hühnerbatterien erinnern, von Pflegerobotern versorgt, einst springlebendige Dörfer verwaisen. »Tja«, sagt Raeder, »das gibt es alles schon heute. Weil die Unternehmer nur noch an 120 Prozent Profit denken.« Schon vor 20 Jahren habe man in jeder Talkshow darüber geredet, dass Deutschland in 20, 30, 40 Jahren ein demografisches Problem haben werde. Er schüttelt den Kopf: »Man hat das Problem erklärt, aber nichts getan.« Das versteht er nicht. Irgendwie gibt einem Raeder das Gefühl, er wüsste, was zu tun sei. Zum Beispiel »Poppen für die Rente?« Diese nicht ganz neue und nicht ganz abwegige Idee hat er jedenfalls auf eines seiner Wahlplakate drucken lassen. Wohlbemerkt: mit einem Fragezeichen versehen. Denn nach dem Poppen beginnen die Probleme, spätestens wenn Kinder kommen, um die es ja letztlich geht. Im »Kastanienwäldchen« hört er es täglich: »Junge Familien sind nicht gefestigt. Ist das Kind erst einmal da, laufen 30 Prozent der Männer weg, Frau und Kind stehen allein da, die Frauen sind völlig am Ende und haben überhaupt keinen Plan mehr.« Also müsse jungen Familien und alleinerziehenden Müttern geholfen werden: »Rund um die Uhr, 24 Stunden, muss eine kostenlose Betreuung aller Kinder garantiert sein, damit die Mütter arbeiten können. Wenn die Kinder dann in der Schule sind, kann es nicht sein, dass sie doof bleiben, weil so viele Lehrer fehlen. Nach der Schule brauchen sie sofort Ausbildungs- und Arbeitsplätze: Allein vom 2006er Jahrgang der Berliner Schulabgänger fanden 11 000 keine Ausbildungsstelle, insgesamt gibt es in der Hauptstadt 40 000 Jugendliche, die nach der Schule durchschnittlich zweieinhalb Jahre zu Hause sitzen, keinen Plan haben, wie es weitergeht, und dann in der Sozialhilfe landen.« Raeder holt kurz Luft: »Hätten sie einen Ausbildungsplatz, dann wären in der Gang nicht mehr 50, sondern nur noch fünf Jugendliche. Und dann könnte sich die Oma nach 20 Uhr wieder auf die Straße trauen. Und in 20, 30 Jahren wären auch wieder die Renten sicher.« Eigentlich sagt Raeder nur das, was hierzulande jeder halbwegs vernünftige Mensch denkt. Das, was auf der Hand liegt. Woran aber kaum noch jemand glaubt. Wie soll denn all das funktionieren - im Zeitalter der Globalisierung, des Endes der Arbeitsgesellschaft, der geflöhten Staatskassen? Raeder gibt zu: »Das weiß ich auch nicht. Wir fangen ja erst an in den Parlamenten. Würden wir sagen, wir wüssten es, wäre das schon die erste Lüge. Wir wollen hundert Prozent ehrlich bleiben. Das haben wir im Wahlkampf versprochen, nicht, dass wir Arbeitsplätze schaffen. Wir koalieren mit niemandem, nur, damit wir im Parlament ein Büro oder ein eigenes Fax bekommen. Wir werden unsere Meinung vertreten und dort, wo wir es für sinnvoll halten, mit allen demokratischen Parteien zusammenarbeiten.« Ich fürchte: Das Leben folgt anderen Gesetzen. Kein Schaf überlebt in der Politik, wenn es nicht früher oder später zum Wolf wird. »Nee«, widerspricht Raeder, »das passiert nicht. Seit Jahren reiße ich mir den Arsch für das graue Label auf, um es in die Parlamente zu drücken. Ich habe diese Pflanze gesät, ich will sie nicht selbst zertreten. Warum sollte ich det tun? Ich brauche kein eigenes Haus. Ich werde alles daran setzen, damit wir ehrlich, menschlich bleiben.« Ach, man möchte Raeder glauben. Weil er an sich und den »grauen Weg« glaubt. Weil Anfang immer wunderbar ist. Weil er die Residenzstraße »Resi« nennt, und weil er es fertigbrachte, dass die »Resi« letztes Jahr zum ersten Mal seit zwei Jahrzehnten wieder eine Weihnachtsbeleuchtung bekam. Weil Kinder bei ihm »Piepels« heißen, und er für 1200 »Piepels« im Hof seines »Kastanienwäldchens« ein rauschendes Fest ausrichtete. Weil er eine »Heimpolizei« für Senioren- und Pflegeheime schuf. Weil er für die alte Frau Möller kämpft, die, seit sie demenzkrank wurde, in einem heruntergekommenen, schimmligen und verdreckten Loch lebt, obwohl sie angeblich regelmäßig von einer Pflegestation betreut wird. Weil er ausspricht, dass alle nur »Kohle« wollen, ohne etwas dafür zu tun. Weil er »Schule in der Kneipe« organisiert, wenn die schon nicht in der Schule stattfindet. Weil er findet, dass Parteien, von denen die eine vor der Wahl eine Mehrwertsteuererhöhung von null Prozent und die andere eine um zwei Prozent wollte, die sich aber nach der Wahl auf eine Erhöhung von drei Prozent einigten, »eine Schelle« verdient hätten ... Aufs Stichwort schneit Wolfgang Raeder herein, sein Vater. Raeder senior ist 63, überzeugter Sozialdemokrat und noch heute aktiv in der Jugendarbeit. Natürlich verfolgt er »Norberts Werdegang«. Was sein Sohn auf die Beine stellt, hält er für »eine ganz tolle, demokratische Sache«. Dass der nicht in die SPD, sondern zu den »Grauen« ging, kann er ihm nicht mal verübeln: »Was er mit den anderen Parteien erlebt, spricht nicht für sie.« Aber ein »Panther« will Wolfgang Raeder denn doch nicht werden: »Die SPD hat, angefangen mit Lassalle, eine lange Tradition. Auch wenn man sieht, was heute ist, darf man nicht gleich verallgemeinern: So ist die Sozialdemokratie.« Vater und Sohn schlagen einander auf die Schultern, Wolfgang Raeder geht einen Kaffee trinken. Die noch längst nicht Ergrauten um Norbert Raeder wollen viel. Sie wollen alles. Beispielhaft vorerst nur für Berlin: den Ausbau von Kindertagesstätten und Horten, Tages-, Nacht- und Wochenendbetreuung, uneingeschränkte Lehrmittelfreiheit, saubere und intakte Spielplätze, weniger Ausfallstunden in Schulen, den Erhalt von Jugend- und Seniorenbegegnungsstätten, mehr Ausbildungs- und mehr Studienplätze, mehr Professoren an den Unis, Lohnnebenkostensenkung und Bürokratieabbau für Klein- und Mittelgewerbetreibende, den Erhalt von sozialen Einrichtungen wie Krankenhäusern in den Bezirken, Schluss mit der Zweiklassenmedizin, keine weiteren Rentennullrunden, Abschaffung der »Sippenhaft« bei der Arbeitslosen-Sozialhife und der Rentenversicherung, neue menschenwürdige Wohnformen für Rentner, sozial Schwache und Behinderte, Senkung der Tarife für öffentliche Verkehrsmittel, keinen Stellenabbau mehr bei Polizei und Feuerwehr, Bestandschutz von Kleingärten, Schluss mit der Veruntreuung und Verschwendung von Steuermitteln, Bestrafung von Steuerverschwendern, sukzessive Ablösung nicht erneuerbarer Energien, konsequenten Tierschutz, keine Tierversuche, Verlagerung der Gütertransporte auf die Schiene, die Abschaffung der Politiker-Rentenansprüche, den sofortigen Verlust aller Ansprüche bei lügenden und kriminellen Politikern und Rückzahlung aller bis dahin erhaltenen Bezüge ... Ein bisschen hört es sich an wie eine Wunschliste. Es ist auch eine. Raeder ist klar, dass die »Grauen« nun ein wenig mehr bieten müssen. Was vor der Wahl »Volkes Stimme« war, könnte nach der Wahl Populismus sein. »Klar, haben wir uns Gedanken gemacht, wie wir unsere Ziele erreichen. Wir haben aus dem Fenster gesehen und uns gefragt: Wer ist denn noch da, der junge Leute ausbilden könnte? Die großen Firmen verlassen das Land. Aber der Lottoladen, der Wollladen, das Beerdigungsinstitut, das Solarium und die Kneipe, sie alle müssen hierbleiben. Ich könnte im "Kastanienwäldchen" eine Restaurantfachkraft ausbilden. Doch die brauche ich nicht, nur zu 30 Prozent. Das gilt auch für den Lottoladen, der braucht ja auch keine Einzelhandelskaufkraft, aber jemanden, der sich mit dem Laden auskennt. Eine kleine Ausbildung müsste her, über anderthalb bis zwei Jahre - als Auffangbecken für Schulabgänger, die sonst auf der Straße lägen. Deutschland braucht wieder einen Plan, ein Ruck muss durch das Land gehen.« So oder so ähnlich hat es auch schon mal ein Bundespräsident formuliert. Kein Ruck ist durch das Land gegangen. Raeder glaubt: »Es war der Falsche, der das gesagt hat.« Vielleicht ist ja Raeder der Richtige. »Der Ruck muss von unten kommen, von uns allen, die wir in Deutschland leben und auch weiterhin leben möchten.« Kinder hat Raeder übrigens noch nicht. Seine Be...

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