Es gibt wieder Menschen, die »das« wissen wollen

  • Lilian-Astrid Geese
  • Lesedauer: 7 Min.
1268 Jüdinnen und Juden waren 1933 in Bonn registriert. Die meisten von ihnen fielen der Vernichtungsmaschine der Nazis zum Opfer. Einige konnten sich in die Emigration retten, manche überlebten, weil es Menschen in ihrer Nachbarschaft gab, die nicht zur Denunziation bereit waren und ihnen Unterschlupf gewährten. Unsere Autorin spürte der eigenen Familiengeschichte nach und besuchte die örtliche Gedenkstätte der Opfer des Naziregimes.
Als Kind fand ich es aufregend. Warum es so war, danach fragte ich nicht. Verwandte aus England, Amerika, Kanada kamen zu Besuch, und ich fand sie irgendwie exotisch: meine Oma aus Chicago, mit ihrer witzigen Sprachmischung aus Englisch und rheinischem Singsang, Hildchen, die unverkennbar hessische New Yorkerin mit den Glitzersteinchen auf der Brille, Evie, meine »Stieftante« aus der Kodak-Stadt Rochester, die einst von ihrem Vater mit einem Kindertransport nach England geschickt worden war und dank gütiger Gasteltern dort den Krieg überlebte. Dass nicht die normalen Wirrnisse des Lebens sie und viele andere, deren Gesichter meine Kindheit und Jugend auf Fotos begleiteten, in die Ferne verschlagen hatten, verstand ich erst im Laufe der Jahre. Es war meine jüdische Familie, unsere »Mischpoke«, die gelebte Diaspora und die Geschichte ihrer Odysseen von Köln nach Toronto, von Breslau über Shanghai nach Kalifornien, von Hildesheim über Ipswich nach Vermont. Und das Bild von Jerusalem in der Küche meines Großvaters. »Falls wir nirgendwo mehr hinkönnen ...«
Im Laufe der Zeit versuchte ich, Antworten auf meine Fragen zu bekommen: Warum sind sie gegangen? Warum wollen manche nie mehr nach Deutschland zurück? Und an die Hiergebliebenen: Wieso glaubten sie, es würde ihnen nichts geschehen? Wer hat euch versteckt? 1933 zählte der Zensus für Bonn 1268 Jüdinnen und Juden. Die Weitsichtigeren emigrierten rechtzeitig. Viele blieben. Nur wenige überlebten.
Seit den 1920er Jahren leben der Kölner Metzgermeister Bernhard Arensberg, geboren 1865, und seine fünf Jahre jüngere Frau Ida mit ihren beiden Töchtern Selma und Hanni, geboren 1894 und 1908, in Bonn. Wie viele assimilierte jüdische Familien respektieren sie die Feiertage, doch orthodox sind sie nicht. Dass Hanni 1929 den nicht-jüdischen Musiker Heinrich Geese heiratet, ist kein Problem. Das junge Paar lebt mit Sohn Heinz, geboren 1930, bei den Eltern.

Arischer Klangkörper
1933 ist Bonn Teil der Rheinprovinz Preußen und zählt 135 000 Einwohner. Die Bevölkerung ist zu 80 Prozent katholisch, das Zentrum ist stärkste Partei und stellt den Oberbürgermeister. Sie bleibt es auch nach den Kommunalwahlen im März 1933. Dann lässt Göring die Spitzen der kommunalen Selbstverwaltung durch NS-Staatskommissare ersetzen. Ab dem 1. April 1933 stehen NS-Posten vor jüdischen Geschäften. Die Arensbergs müssen ihren Großhandel aufgeben; allein vom Verkauf an jüdische Kunden können sie nicht leben.
Schon kurz darauf gilt der »Arierparagraph«. Professoren der Bonner Universität werden entlassen, jüdische Anwälte und Ärzte dürfen nicht mehr praktizieren. Zunächst bleiben sogenannte »Mischehen« noch von den Maßnahmen der Nazis verschont, doch dann wird 1935 dem jungen Soloklarinettisten des Städtischen Orchesters, Heinrich Geese, gekündigt. Er ist »jüdisch versippt« und es ist der Stadt Bonn »nicht zuzumuten«, einen solchen Musiker in ihrem Klangkörper zu haben.
Mitte September 1935 werden die Nürnberger Gesetze erlassen. Hanni und Heinrich lassen sich scheiden, damit er Arbeit finden und so weiter für die Familie sorgen kann. Ab 1938 sind jüdische Kinder vom Schulbesuch ausgeschlossen. Der kleine Heinz Geese wechselt zwei Jahre nach seiner Einschulung auf die Stiftsschule. Deren Rektor trägt zwar das goldene Parteiabzeichen, er traut sich aber, Schüler auch gegen die rassistischen Vorschriften der NSDAP an seiner Schule zu belassen. Heinz bleibt bis zum Hauptschulabschluss 1944. »Sicherheitshalber« lässt seine Mutter ihn 1939 evangelisch taufen.
Hannis ältere Schwester Selma hat mit ihrem Mann Max Heydt und ihren vier Töchtern Deutschland bereits verlassen. Mit Entsetzen verfolgen sie aus dem fernen Atlantic City, was in der alten Heimat geschieht. Die Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938, in der die Bonner Synagoge am Rheinufer abbrennt, sieht Max als Bestätigung seiner schlimmsten Befürchtungen. Doch für die Eltern Arensberg, Tochter Hanni und Familie kommt die Einsicht zu spät. Mit unerschütterlichem Zweckoptimismus (»Es wird schon vorbeigehen.«) erleben sie die Einführung der Kennkarte für Juden, die zwangsweise Benennung in Sara bzw. Israel, die Arisierung jüdischer Geschäfte, das Verbot, öffentliche Parks, kulturelle Veranstaltungen und Telefonzellen zu betreten. Juden dürfen keine Haustiere mehr halten, keinen Schmuck haben, nach 20 Uhr nicht das Haus verlassen, nur zu bestimmten Zeiten einkaufen, keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, kein Fahrrad fahren, keine Schreibmaschinen besitzen.
Ab Juni 1941 interniert die Gestapo fast 500 jüdische Bonnerinnen und Bonner im Kloster Endenich, darunter Bernhard und Ida Arensberg. Heinz besucht seinen geliebten Opa regelmäßig, Mutter Hanni bringt täglich Essen. Von der Deportation erfährt sie am Vorabend. Für Heinz kommt sie überraschend: »Ich ging wieder zum Kloster, wie fast jeden Tag. Doch es war niemand mehr da .«
Der letzte Transport verlässt Endenich in Richtung Theresienstadt am 27. Juli 1942. Ida Arensberg stirbt dort am 18. September 1942, Bernhard am 15. Januar 1943. Von den fast 500 aus Bonn Deportierten überleben sieben.
220 »in Mischehe« lebende Juden sind noch in Bonn registriert, als die Gestapo Mitte September 1944 auch Hanni und Heinz zum Transport ins Sammellager Köln-Müngersdorf bestellt. Mit den längst gepackten Koffern fliehen Mutter und Sohn in letzter Minute in die Pfalz, wo sie mit der Legende, »ausgebombte Stadtflüchtlinge« zu sein, von einem kommunistischen Arbeiter und dessen Frau, die die NSDAP-Ortsgruppe der Frauen leitet, versteckt werden, Verfolgung und Krieg überleben.

Nicht verpfiffen
Wie kann das gehen, frage ich meinen Vater viele Jahre später? Eure Nachbarn wussten doch bis zu eurer Flucht, dass Ihr Juden wart. Woher hattet ihr etwas zum Essen, als es für Juden nichts mehr gab? Wieso konntest du weiter zur Schule gehen? - Da gab es den Lebensmittelhändler um die Ecke, der den Arensberg/Geeses half, ihnen Lebensmittelmarken zusteckte. Da gab es den Polizeibeamten, der den gleichen Lebensmittelhändler gelegentlich ermahnte, er solle nicht so laut auf die Nazis schimpfen, sonst müsse er ihn verhaften. Da war der Rektor der Stiftsschule, der für den 14-jährigen Heinz sogar noch eine Lehrstelle besorgte (»Der Chef weiß Bescheid«). Da waren die vielen, die sich nicht zur Denunziation herabließen, als der kulturbeflissene Metzgermeister Arensberg auch nach der Ausgangssperre abends ins Theater ging und deshalb den Judenstern nur mit einer Sicherheitsnadel am Mantel befestigt hatte. Da war die Nachbarin, die den Schlüssel zur Wohnung aufbewahrte und Hanni Geese nicht bei der Gestapo verpfiff, als diese aus der Pfalz heimlich nach Bonn zurückkehrte, um noch ein paar Sachen zu holen.
»Bonn war nicht Berlin oder Breslau«, antwortet mein Vater. »Im Rheinland lebt man nach dem Motto "Leben und leben lassen". Nicht, dass es viel Widerstand gegen die Nazis gegeben hätte. Aber eben auch nicht viel Unterstützung. Vielleicht auch, weil hier so viele Katholiken waren.«
Eine These, die mir Astrid Mehmel, Leiterin der Gedenkstätte für die Opfer des Naziregimes in Bonn, bestätigt. Zwar gab es auch seitens der katholischen Kirche keine offene Kritik am Nationalsozialismus oder Stellungnahmen gegen die Judenverfolgung, doch die aktive Unterstützung für die Nazis in der Bevölkerung war weniger ausgeprägt als in anderen Teilen des Reiches. Der politische Widerstand, vor allem der KPD und der Gruppe um den späteren Leipziger Geschichtsprofessor Walter Markov, wurde dagegen schon sehr früh, weitgehend 1935, zerschlagen.
All das hatte man in Bonn, nicht anders als in der übrigen Bundesrepublik, lange vergessen. Erst in den 1980er Jahren begann eine öffentliche Auseinandersetzung mit dieser Stadtgeschichte. Aus einer Initiative des Protests gegen die Pläne, auf den Ruinen der alten Bonner Synagoge erst einen Parkplatz und dann ein Luxushotel zu errichten, entstand die Idee zur Gedenkstätte für die NS-Opfer in Bonn. Seit zehn Jahren gibt es sie, die engagierte Dauerausstellung in den Räumen des Stadtmuseums. Sie erzählt Schülern und Erwachsenen die Geschichte von mutigen Widerstandsleistenden und von brutalen Verfolgern, von resignierten Menschen und von solchen, die die Hoffnung nicht aufgeben wollten. 1184 Tafeln erinnern an die Opfer in der idyllischen Stadt am Rhein: 774 waren Jüdinnen und Juden, 287 Euthanasie-Opfer, darunter 112 Kinder, 47 aus politischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen Verfolgte, vor allem Mitglieder der KPD, 21 waren Sinti, 7 Zwangsarbeiter aus Polen und der Sowjetunion, 48 wurden aus unbekanntem Grund ermordet. Von vielen sind die Namen nicht vollständig bekannt, von wenigen nur gibt es Fotos. Die Vernichtungsmaschine der Nazis war schrecklich effizient, sie tilgte häufig jedes Dokument, das an Leben erinnerte.

Erschrecken und Scham
Vielleicht hat es so lange gedauert, bis eine Gedenktradition im Täterland beginnen konnte, weil das Erschrecken und das schlechte Gewissen jener, die nicht den Mut des Lebensmittelhändlers oder der Nachbarin hatten, zu groß waren, als das Naziregime Deutschland in Trümmern hinterließ. Die Opfer mussten das Trauma bewältigen, wie auch das absurde Schuldgefühl, dass sie noch lebten, aber ihre Familien tot waren. Die Jüngeren wollten ein neues Leben beginnen. Und die Täter wollten vergessen. Viele Jahre vergingen, bis eine neue Generation alt genug war, um Fragen zu stellen und Antworten zu bekommen.
Der rege Besuch in der kleinen Gedenkstätte in Bonn zeigt, dass es - wieder - Menschen gibt, die »das« wissen wollen. Die spüren, dass nicht vergessen werden darf.
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