Der doppelte Boden von Odessa

Tief unter der Stadt erinnern heute Ausstellungen an die wechselhafte Geschichte der einzigartigen Katakomben

  • Bernhard Clasen, Odessa
  • Lesedauer: 7 Min.
Früher gab es in fast jedem Haus eine Treppe, die hinab in die Katakomben führte.
Früher gab es in fast jedem Haus eine Treppe, die hinab in die Katakomben führte.

Odessas Katakomben gelten als die umfassendsten weltweit – ein verzweigtes Gangsystem von 2500 Kilometern Länge. Sagenumwoben ist das Tunnelnetz, das Schmugglern, Revolutionären, Menschenhändlern, Deserteuren, religiösen Minderheiten, Freimaurern, Partisanen und zuletzt Menschen, die sich in den letzten drei Jahren vor russischen Luftangriffen fürchteten, Unterschlupf bot.

Was aussieht wie ein schlichtes Garagentor ist in Wirklichkeit ein Eingang in die Unterwelt. Wer sich in diese Tiefen begibt, muss warme Kleidung und gutes Schuhwerk tragen. Im Untergrund, bei bis zu 50 Metern unter der Erde, herrschen immer 14–16 Grad. Man braucht außerdem einen Helm. Denn immer wieder kann man in den engen Gängen mit dem Kopf an die Decke stoßen oder auf dem feuchten Boden ausrutschen. Und eine Taschenlampe. »Gehen Sie sparsam mit Ihrem Licht um«, warnt der Mann am Eingang, der die Besucher in die Dunkelheit bringt, »man weiß ja nie. Und wenn die Taschenlampe Ihres Vordermannes leuchtet, lassen Sie Ihre ruhig ausgeschaltet.« Er weiß, wovon er spricht. Wer sich verläuft, ist spätestens dann verloren, wenn die Taschenlampe ihren Geist aufgibt.

Es wäre nicht das erste Mal, dass sich ein Mensch in den Gängen unter Odessa verirrt. Einer von ihnen war Konstantin Scharikow. Er hatte 2012 auf eigene Faust die Gänge durchforscht. Seitdem ist er spurlos verschwunden. 2021 hatte man in einem unterirdischen Gang ein Skelett und einen Rucksack gefunden. Möglicherweise sind das seine sterblichen Überreste. Nicht umsonst hat jede geführte Exkursion zwei Führer: Einer ist vorne, eine andere Person macht das Schlusslicht und achtet darauf, dass niemand allein in einem Gang verschwindet.

1794 gründete Zarin Katharina II. Odessa und lockte Siedler mit Anreizen: abgabenfreiem Branntwein und Salz sowie einer zehnjährigen Steuer- und Militärfreiheit. In Windeseile ließen die Stadtoberen Häuser errichten und standen vor der Frage, woher sie das Baumaterial für eine ganze Stadt nehmen sollten. Die Steine ließen sie aus dem Untergrund fördern, dort gab es Kalk- und Sandstein. Gleichzeitig schufen sie damit ein riesiges unterirdisches Tunnelsystem.

Begonnen hatte man in einem neun Kilometer langen Gang aus insgesamt 70 zusammenhängenden Höhlen, die sich im Lauf von 3,7 Millionen Jahren gebildet hatten. Es waren Karsthöhlen, die durch das langsame Lösen von Kalkstein durch unterirdische Wasserläufe entlang bereits bestehender Gesteinsrisse entstanden sind.

Anfang des 20. Jahrhunderts, waren diese neun Kilometer um weitere 2500 Kilometer unterirdischer Tunnel erweitert worden, die den Untergrund der Stadt beim Abbau des vorwiegend gelblichen Sandsteins ausgehöhlt hatten. Als aber bei immer mehr Häusern das Fundament weggerutscht war, schlugen die Statiker Alarm, und kurz nach der Oktoberrevolution verbot die Stadt das weitere Graben im Untergrund. Nur in einigen Außenbezirken von Odessa wird noch bis heute gegraben. Gut möglich, dass man irgendwann von 2600 Kilometern unterirdischer Tunnel sprechen wird.

Im Laufe der Zeit sind die Katakomben zu einem geheimnisvollen Ort geworden, über den sich viele Schauergeschichten erzählt werden. Hier sollen junge Frauen festgehalten worden sein, die man zuvor in der Stadt entführt hatte. Und direkt von hier waren sie vom Hafen der Stadt Odessa in einen arabischen Harem gebracht worden, heißt es. Verbrecher und Taschendiebe nutzten die Katakomben als Rückzugsort. Sogar eine eigene Schule für Taschendiebe hatte man hier eingerichtet. Und sie alle hatten einen Vorteil: Sie kannten sich in dem Labyrinth aus. Denn wer sich in den Katakomben verirrt, den erwartet ein sicherer Tod. Die Wände verschlucken Hilferufe. Walkie-Talkies und Mobiltelefone funktionieren nicht.

Katakomben im Krieg

Während des Zweiten Weltkriegs war Odessa vom 16. Oktober 1941 bis zum 10. April 1944 von deutschen und rumänischen Truppen besetzt. Ganz Odessa? Nein. Ein Ort blieb den Besatzern verschlossen: die Katakomben. In dieses Labyrinth trauten sie sich nicht hinunter. Da hatten sowjetische Partisanen ihr Rückzugsgebiet, ihr Waffenlager, ihr Hauptquartier.

Wer die unterirdischen Gänge in Nerubajske, 15 Kilometer von Odessa entfernt, betritt, stößt auf ein Museum, das den sowjetischen Partisanen gewidmet ist. Es befindet sich genau in dem Bereich, von dem aus die Aufständischen ihre Angriffe auf die Besatzer starteten. Boten versorgten sie mit Lebensmitteln, Waffen und Informationen, und so hatten die Partisanen alles, was sie zum Leben und Kämpfen brauchten: eine Feldküche, Wasser, Heizung, Schlafräume, eine Waffenkammer und einen Schießstand. Wenn die Kämpfenden aus dem Untergrund herauskamen und sich auf den Weg in die Stadt machten, wechselten sie ihre Kleidung. Denn wer lange in den Katakomben lebte, nahm mit seinen Anziehsachen den für die Höhlen typischen Geruch auf, der sie schnell hätte verraten können.

Angeführt wurde dieser »unsichtbare Frontabschnitt« von Wladimir Molodzow. Unter seiner Leitung führten die Partisanen zahlreiche Operationen gegen die Besatzer durch. So verhinderten sie etwa die Sprengung des Damms am Chadschibej-Liman, die von den Besatzern geplant war, um den Vormarsch der sowjetischen Truppen unter General Rodion Malinowski aufzuhalten. Ebenso retteten sie den Hafen von Odessa, den die Besatzer vor ihrem Rückzug vermint hatten. Eine der spektakulärsten Aktionen war die Sprengung des Zuges »Lux«, in dem sich über 200 hochrangige Funktionäre der Besatzer befanden. Diese waren auf dem Weg in die Schwarzmeerstadt, um dort die Verwaltung des geplanten rumänisch-deutschen Gouvernements »Transnistrien« zu übernehmen. Alle Insassen kamen bei der Explosion ums Leben.

Für Ortsfremde werden in Odessa Führungen durch die Gänge und Höhlen angeboten, und es gibt Ausstellungen über die Unterwelt.
Für Ortsfremde werden in Odessa Führungen durch die Gänge und Höhlen angeboten, und es gibt Ausstellungen über die Unterwelt.

Die Besatzer setzten alles daran, die Partisanen aus ihrem Unterschlupf zu vertreiben: Sie versiegelten Ausgänge, vergifteten Belüftungsbrunnen und setzten Giftgas ein, sie erzielten damit aber kaum Wirkung. Schließlich griffen sie zu einem altbewährten Mittel – dem Verrat. Ein Kollaborateur lieferte Molodzow und zwei seiner engsten Vertrauten, Tamara Meschigurska und Tamara Schestakowa, an die Besatzer aus. Alle drei wurden hingerichtet. Auch Jascha Gordijenko, der Anführer einer Jugendgruppe, wurde festgenommen und getötet.

Auch heute noch dienen die Katakomben als Schutz vor dem Feind, das betont Swetlana Ganitsch, Kuratorin der Ausstellung »Symphonie des Lichts« im Untergrund. Allerdings suchen nur wenige Bewohner des Großraumes Odessa in diesen Schutz vor russischen Luftangriffen. Denn wenn es wirklich einen Luftangriff gäbe, der auch die Höhlen beschädigt, dann wäre die Gefahr groß, dass die Gänge mit Schutt versperrt sind – es wäre aussichtslos von dort, wo kein Telefon funktioniert, Hilfe zu holen.

Wenn Bilder im Dunkeln erwachen

Tief in einem Seitenarm brennt ein geheimnisvolles Licht der Ausstellung – eine einzigartige Galerie, die sich den Bedingungen des Untergrunds angepasst hat. Landschaftsgemälde, die in absoluter Dunkelheit zu leuchten beginnen, lassen die Besucher für einen Augenblick vergessen, dass sie tief unter der Erde in einem engen Gang stehen. Künstlerinnen und Künstler der Initiative »Goldener Schnitt« um die Malerin Maria Wasiljewska entwickelten dafür eine eigene Technik: Fluoreszierende Pigmente und Leuchtstoffe – sogenannte Luminophore – wurden mit Ölfarben gemischt, um die Bilder auch in völliger Finsternis sichtbar zu machen. UV-Lampen laden die Farben auf, wechselnde Lichtzyklen simulieren Tag und Nacht.

Der Aufbau dieser Galerie war eine technische Herausforderung. Hohe Luftfeuchtigkeit oder eine eingeschränkte Elektrik, die nur 36-Volt-Leitungen zulässt, sowie die Gefahr von Einstürzen – das sind alles Faktoren, die den Betrieb erschweren. Zwar versucht man, mit Belüftungssystemen die Haltbarkeit der Werke zu verlängern, aber die Feuchtigkeit in den dunklen Gängen fordert ihren Preis. Und so müssen die Werke regelmäßig ersetzt werden. »Die Ausstellung bleibt dauerhaft – aber die Exponate werden sich verändern«, erklärt die Kuratorin.

Die Bewohnerinnen und Bewohner von Odessa genießen einen eigenen Ruf. Listig seien sie, die Odessiten, Minderwertigkeitskomplexe seien ihnen fremd, und sie seien nie um eine Ausrede oder auch einen Ausweg verlegen. Sollte irgendwo ein Riss in einem Haus auftritt oder ein Wasserrohr leckt, dann wissen sie auch sofort, woran das liegt: an den Katakomben!

Die steuer- und zollfreien Jahre aus der Gründerzeit von Odessa scheinen sich im kollektiven Gedächtnis der Bewohner eingeprägt zu haben. Von 1819 bis 1858 durfte die Stadt unter der Bezeichnung »Porto Franco« weiterhin Waren zollfrei einführen. Für Schmuggler, die ihr Gut im Untergrund versteckten, bevor sie es aus der Stadt herausschmuggelten, war Odessa viele Jahrzehnte ein Paradies. Und auch der Umstand, dass es bis zur deutschen Besatzung von Odessa praktisch von jeder Wohnung aus einen leichten Zugang zu den unterirdischen Tunneln gab, in denen sich nur Einheimische auskannten, Fremde aber hoffnungslos verloren sind, gibt den Odessiten das Bewusstsein, immer noch einen zweiten Boden zu haben.

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