Die Ware Mensch im Zeitgefüge

Hebbel-Theater zeigt die bemerkenswerte Aufführung: »Karl Marx: Das Kapital, erster Band«

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: ca. 2.5 Min.
Es sei verrückt, »Das Kapital« auf die Bühne zu bringen, schmunzelt Thomas Kuczynski, der als Wirtschaftshistoriker seinem berühmten Vater Jürgen folgt und bei dem Stück als Darsteller dabei ist. Marx versuche in dem Wissenschaftswerk, das Bewegungsgesetz der Gesellschaft zu enthüllen und das im ersten Band 751 Seiten lang. Daraus wurde »Karl Marx: Das Kapital, erster Band«, inszeniert von der Theatergruppe Rimini Protokoll - in einem zweistündigen Abend jetzt in Berlin im Theater Hebbel am Ufer 2 zu sehen. Die beiden Regisseure Helgard Haug und Daniel Wetzel haben sich dieser schwierigen Aufgabe angenommen und sie mit Bravour gemeistert. Das Stück konfrontiert auf originelle, vergnüglich-hintersinnige Weise mit einem großen deutschen Denker, indem es die realen Schicksale und Lebensentwürfe von acht Zeitgenossen vorführt, die mit jenem philosophisch-ökonomischen Paukenschlag auf ihre Weise verknüpft sind. Eine Schrankwand dicht vorm Zuschauer füllt die Bühnenbreite. Über Etagen türmen sich die blauen Editionen und viele Ordner. Kolorit schaffen dunkle Marx-Büste, Gips-Lenin, rote Nelken im Spot, blinkernder Spielautomat und Menschen als lebende Regal-Exponate. Marx im Gehäuse. Das Idyll mit Kunstblumen wird zum Verhandlungsort über Ware-Geld-Beziehungen: Vor dem Möbel treten die Selbstdarsteller in einen spielerisch oft amüsant aufgelösten, musikalisch von Christian Sprembergs Tonkonserven untermalten Disput. Spremberg, geburtsblinder Call Center Agent mit einer 20 000 Stück umfassenden Plattensammlung, beklagt witzig teure Rufumleitungen, Kuczynski führt ihm eine negative Win-Win-Situation vor: ein russischer »Kapital«- Nachdruck von 1932 gegen die Blindenausgabe von 1958. An Jahreszahlen zwischen 1944 und 2000 entrollen sich Lebensläufe und Ware-Tauschwert-Verhältnisse: Auf dem Rigaer Schwarzmarkt werde nach Geldeswert derzeit ein Marx mit 50 »Mein Kampf« aufgewogen, weiß Talivaldis Margevics. Er selbst, lettischer Filmemacher, wäre nach dem Krieg als kranker Bub auf dem Rücktransport aus dem Flüchtlingslager in die Heimat von seiner Mutter fast gegen Brot, Butter, Milch eingetauscht worden. 1966 las er erstmals Marx. Jochen Noth, Unternehmensberater, organisierte sich nach dem Studium in Heidelberg in radikal linken Bünden, studierte das »Kapital«, saß wegen Landfriedensbruchs ein, ging nach Peking, kehrte entmaoisiert und entillusioniert zurück. Jeder sei käuflich, meint Ralph Warnholz, einstiger Glücksspieler, und zeigt damit auch auf Gewerkschaftsbosse. Knapp zehn DM verdiente ein Spielautomaten-Monteur je Stunde, gleichzeitig verliert er an dem Gerät in dieser Zeit rund 20 DM, rechnet Warnholz vor. Franziska Zwerg, Übersetzerin der Jelzin-Biografie, wollte aus der DDR ausreisen, studierte dann in Berlin und Moskau. Jüngster ist mit 22 Sascha Warnecke: Mitglied der DKP seit 2003, Wiedergründer der sozialistischen Arbeiterjugend. Marx verbindet oder spaltet eben über Generationen hinweg, auch die Zuschauer, die in den reichlich verteilten Klassikerfolianten wie in einer Bibel mitlesen können. Buchautor Ulf Mailänder führt gegen Schluss als Betrüger Jürgen Harksen die aberwitzige Geschichte von der selbstläufigen Gewinngläubigkeit betuchter Kapitalanleger vor. Und die Zukunft? 2015 erhofft Sascha die Revolution, sieht sich Margevics seine alten Filme an, reist Noth wiederholt nach China, Warnholz gar um die Welt. Auf Sinn- statt Gewinnmaximierung setzt Mailänder, Kuczynski prophezeit die Edition seiner idealen »Kapital«-Ausgabe, die Franziska Zwerg dann auch nicht lesen wird. An allem ist zu zweifeln, schrieb Marx seiner Tochter ins Poesiealbum. Darauf einigen sich salomonisch alle am konfettiberegneten Ende dieses Streifzug...

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