Lichtgestalten im Dauerfrost

Früher begegnete man ihm hier auf Schritt und Tritt - auf Straßenschildern, über Schuleingängen, als Büste und beim Selbststudium: Lenin. Heute ist er ein wenig ins Hintertreffen geraten, und ein unschuldiges Gebet zu ihm kann einen in Teufels Küche bringen, in die Verbannung als Geächteter, die zwar nicht mehr im Gulag, doch für manchen immerhin im Alkoholismus endet. Dies sei hiermit ausdrücklich riskiert, zumal ein aktuelles Ereignis nicht mit Schweigen übergangen werden darf, mit dem sich Wladimir Iljitsch nachdrücklich in Erinnerung brachte. Nach 1600 Kilometern Marsch durch die antarktische Eiswüste, in der furchtbaren Gewissheit, auch über die nächsten 1600 Kilometer hinweg keiner Spur menschlichen Lebens zu begegnen, traf eine britisch-kanadische Expedition am Pol der Unzugänglichkeit unerwartet auf ihn. Jener Punkt der größten Entfernung von allen Antarktisküsten ist ein rechnerisches Fixum, Sturm und Eis leben ihre Neigungen eher in der Fläche aus. Doch nun ist gewiss: Er ist markiert, der Pol der Unzugänglichkeit, und zwar eindrucksvoll. Eine Leninbüste steht dort mitten im Dauerfrost, womit der Sowjetgründer wenigstens vier verwegenen Männern jene Orientierung geben konnte, für die er früher tagein, tagaus weltweit und gedankenlos benutzt wurde. Damit könnte auf den ersten Blick ein unerwarteter Beleg für die Lebenskraft der Revolution erbracht sein - ein ganzer Kontinent immerhin hat den Kampf noch nicht aufgegeben, das sozialistische Experiment fortzuführen, bis es einst in Form einer blühenden Landschaft vollendet ist. Nicht einmal Rost hat die Statue angesetzt - sie ist aus Plaste. Die Büste könnte aber auch als Symbol für das Gegenteil dienen, als frostiger Beleg, welch tragisches Schicksal dem einsamen Rufer in der Wüste zuteil wird. Knapp 49 Jahre hat es nach seiner Aufstellung durch eine sowjetische Polarexpedition, also genau genommen seiner Verbannung, gedauert, bis nun wenigstens vier Verrückte seinem Winken gefolgt sind. Immerhin, diesen vier bot sich blitzeisartig die Erkenntnis, wie zutreffend das Wort vom Totgesagten ist, der länger lebt. Was hätte man doch Erich Honecker gewünscht, den Wahrheitsbeweis für dieses von ihm gern gebrauchte Wort persönlich am Pol der Unzugänglichkeit anzutreten! Doch nun ist es wieder Lenin, der als historisches Beispiel dienen muss. Um heutige Politiker an seiner Standhaftigkeit zu messen. Und es gibt sie, die Beispiele in Eis und Wind, die einfach keinen Rost ansetzen. Nicht nur in der Linkspartei, wo mit Gregor Gysi ein würdiger Nachfolger Lenins zu jedem Fernsehtalk bereit steht. Ganz zu schweigen von Oskar Lafontaine, dessen plötzliches Auftauchen im eisfrei geglaubten Bundestag sozialdemokratische Abenteurer wie Schröder, Müntefering oder Struck noch schlimmer erschreckt haben muss als den frommen Schneepilger am Südpolar eine Leninbüste beim Parteilehrjahr mit einer Gruppe Haubenpinguine. Nein, auch anderswo sind solche historischen Gestalten zu finden, Ewigmorgige, die allenfalls weggestellt werden können, nicht aber abgestellt. Edmund Stoiber braucht nur noch ein ganz kleines Weilchen so zu tun, als wolle er tatsächlich den Fuß auf die Klappe setzen, die in die Versenkung führt. Wenn Beckstein, Seehofer und Huber genug miteinander Schlitten gefahren sein werden, wird ihr Weg sie automatisch zurück zum bayerischen Landesvater führen. Ein Schluck Rostschutzmittel für die entwöhnte Kehle, und alles kann auch rhetorisch wieder so schön werden wie früher. Ein anderes Beispiel ist Peter Hartz. Zunächst noch in die Wüste verbannt, die gleich vor den Toren des VW-Automobilkonzerns beginnt, wird er irgendwann aus seiner Starre erwachen. Wenn er dann wie aus dem Nichts vor den Mitgliedern des Betriebsrates auftaucht, wenn die sich arglos ihrem jahresbonusmäßigen Freudenhausbesuch hingeben wollen, wird man Türsteher nicht länger brauchen. Dann wird sich auch der niedersächsische Ministerpräsident für seinen Vorschlag schämen, den Hartz-Gesetzen ihren urheberrechtlich geschützten Namen zu entziehen. Diese dürften nicht länger wie Hartz heißen, meinte Christian Wulff, weil die Reformen sonst in ein schlechtes Licht gerückt würden. So ein Quark! Wie sollte man sie denn nennen, jetzt, wo der Name endlich richtig passt? Man kann ja auch eine Leninbüste nicht einfach umbe...

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