Neue Vibes

  • Heiko Werning
  • Lesedauer: 3 Min.

Ich erwähnte an dieser Stelle bereits unsere hauseigene Kommunikationskultur über ausgehängte Zettel. Unlängst stieß ich auf eine völlig neuartige Variante. Ein DIN-A4-Blatt im Querformat, innen an der Haustür. In sauberer Schreibschrift darauf ein Vierzeiler, für jede Zeile hatte die mutmaßliche Autorin eine eigene Farbe gewählt: »Liebe Nachbarn groß & klein, / darf es auch ein Hallo sein? / Und ein Lächeln noch dazu, / gute Laune haben wir im Nu!«

Gut, etwas holprige Metrik, aber dafür waren »Hallo« und »Lächeln« unterschlängelt, »Nu!« unterstrichen, daneben prangte ein großer Smiley. Das untere Viertel des Zettels war so zurechtgeschnitten, dass man sich Fransen abreißen konnte, wie sonst immer die Telefonnummer-Abreiß-Abschnitte. Aber hier gab es zum Abreißen und Mitnehmen: »Love«, »Peace«, »Happiness«, »gute Laune«, »Ruhe«, »guter Schlaf«, ein Herzchen, »Glück«, »gute Noten«, »Gehaltserhöhung«, »neue Liebe«, »Urlaub«, »schöne Träume« »Gelassenheit« »gute Vibes«, »positive Ausstrahlung«. Kein Zweifel - wir haben eine Wahnsinnige im Haus.

Robert aus dem Zweiten stand wie vom Donner gerührt davor. »Was soll das denn?«, fragte er fassungslos. Wir bestaunten das Dokument. Wer macht so etwas? Und warum? Robert murmelte etwas von Gentrifizierung, und dass es nun soweit sei.

Als ich nachts nach Hause kam, fehlten bereits drei Zettelchen. Hier also die Top-Three der Anwohnerwünsche: »Ruhe«, »Glück« und »neue Liebe«. Mein Sohn nahm am nächsten Morgen »gute Noten« mit, was immerhin saisonal durchaus angemessen scheint, denn die Zeugnisse stehen an. Als Nächstes verschwand »Gute Laune«. Wieder traf ich Robert, der kopfschüttelnd vor dem Aushang stand und den Fortschritt mit der Handy-Kamera dokumentierte. »Gute Laune ist weg!«, flüsterte er entsetzt, »irgendjemand hier wünscht sich gute Laune. Sie lassen Gehaltserhöhung hängen und nehmen gute Laune mit. Werning, das ist das Ende. Sie werden uns fertigmachen. Glaub mir!« Er war regelrecht aufgebracht. Ich empfahl ihm, »guter Schlaf« mitzunehmen, aber er zog schimpfend davon: »Man fühlt sich langsam fremd im eigenen Haus. Irgendjemand hat gestern außerdem den Müll im Hof eingesammelt. Sie wollen uns zermürben!« Das schien mir übertrieben.

Inzwischen aber bin ich nicht mehr sicher. Erstens: Der Zettel hängt immer noch völlig unbeschädigt da. Zweitens: Nur noch ein Abschnitt weht einsam am Blatt. Drittens: Niemand hat etwas dazugeschrieben.

Ich sehe die Nachbarn jetzt mit ganz anderen Augen. Jeden, den ich treffe, mustere ich misstrauisch. Könnte das jemand sein, der sich nicht zu blöd war, »gute Vibes« einzustecken? Wer sehnte sich nach »Happiness«?

Kurz habe ich überlegt, etwas Nostalgisches auf den Zettel zu schreiben: »Habt Ihr sie noch alle, Ihr Arschlöcher?« Oder wenigstens einen hilfreichen Hinweis: »Die Telefonnummer vom psychiatrischen Notdienst lautet ...« Aber ich atmete tief durch. Die Zeiten ändern sich eben. Ich riss den letzten Abschnitt ab. Darauf stand: »Gelassenheit.« Achselzuckend steckte ich ihn mir in die Tasche.

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