Revolte, Rausch

Boris Sawinkow: Nach dem »fahlen Pferd« nun das schwarze

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 6 Min.

Das eine Pferd ist weiß, und dem Reiter sind gegeben ein Bogen und eine Krone. Und das andere Pferd ist rot, und der Reiter trägt ein Schwert. Und das dritte Pferd ist fahl, und der Reiter heißt Tod. Und das vierte Pferd ist schwarz, und der Reiter hält eine Waage in der Hand.» Aus der Offenbarung des Johannes nahm Boris Sawinkow bereits den Titel seines 2016 auf Deutsch erschienenen Buches «Das fahle Pferd», dem Roman eines Terroristen vor autobiografischem Hintergrund: Denn Sawinkow war nicht nur an der Ermordung des russischen Innenministers Wjatscheslaw von Plehwe 1904 und ein Jahr später am Anschlag auf den Moskauer Generalgouverneur Großfürst Sergej Romanow beteiligt. In der Kampfabteilung der sozialrevolutionären Partei Russlands ist er ein «General des Terrors» gewesen, ein kühl kalkulierender Kopf, den zugleich die Leidenschaft umtrieb, ja, der ohne das gefährliche Spiel nicht sein konnte. Ein «Berufsabenteurer», meint Alexander Nitzberg, der seinerseits den Ehrgeiz hat, die gesamte literarische Hinterlassenschaft Sawinkows ins Deutsche zu bringen.

Nun also «Das schwarze Pferd», 1923 in Paris verfasst. Im Vorwort, das 1924 im Lubjanka-Gefängnis entstand, geht Sawinkow auf das Bild der Waage ein. Denn was die Romangestalten auch von sich selber meinen, «objektiv kann nur einer recht haben - entweder die Roten oder ihre Gegner». George, der Ich-Erzähler, ist umgeben von Leuten, die aus verschiedensten Gründen die Bolschewiki hassen. Zunächst ist er der Herr Oberst in einem weißgardistischen Regiment, dann verschlägt es ihn zu den Grünen, einer Partisanenarmee, der es vornehmlich um die Belange der Bauern geht. Ihre Formationen werden aufgerieben. George kommt in sein geliebtes Moskau zurück und plant im Auftrag der Sozialrevolutionäre ein Attentat auf den Chef der Tscheka, treu unterstützt von einstigen Kampfgefährten, von denen sich einige unerkannt in die sowjetischen Strukturen einschleichen konnten. Das Attentat misslingt; es folgen Verhaftungen und Erschießungen. George bleibt unbehelligt. Er hat ein letztes romantisch-trauriges Treffen mit Olga, die für ihn einst Inbegriff des eleganten, adligen Russlands war und nun als Kommunistin die Haare kurz trägt. Dann steigt er in den Zug nach Paris.

Der Roman lebt von der Detailtreue, aber auch von der pathetischen Pose seines Autors. Ein Sprachkunstwerk, durchsetzt mit Zitaten aus der Bibel und Verweisen auf berühmte Dichter. Dieser George sprengt nicht nur als Reiter in den Kampf, er sitzt immer auf dem hohen Ross, was sein Charisma, seine Belesenheit betrifft. Wir haben es schon im vorigen Roman gesehen: Sawinkow besitzt diese Überlegenheit, und er braucht sie auch. Was seine Umgebung bezauberte, prägt auch sein Selbstbild. Selbst als Gefangener wollte er an der Spitze stehen und brachte es zu einer grandiosen Szene noch vor Gericht.

In Paris hatte er mit dem britischen Geheimdienst gegen die Bolschewiki zusammengearbeitet. Unter dem Vorwand, dass man ihn für eine große antisowjetische Verschwörung brauchte, wurde er in die Sowjetunion gelockt und unverzüglich verhaftet. Ging er nun trotzig in den Tod, wie es seine einstigen Kampfgefährten getan hatten? Mit einer flammenden Rede, die auch im Buch abgedruckt ist, beeindruckte er die Richter. Das Todesurteil wurde in eine zehnjährige Freiheitsstrafe umgewandelt. Die saß er nicht etwa in einem Straflager ab. Im Gefängnis der Lubjanka bewohnte er zwei Zimmer, wurde regelmäßig ins Theater oder ins Restaurant ausgeführt und konnte seine Geliebten empfangen. Dass er sich ein knappes Jahr später dort aus dem Fenster stürzte, kann eine Art Hinrichtung gewesen sein. Vielleicht war es aber auch Selbstmord, weil sie ihn doch nicht so nah an die Hebel der Macht ließen, dorthin, wo er glaubte, naturgemäß hinzugehören.

Er hätte gerne weiter mitgespielt. Dafür war er zu einem Reuebekenntnis bereit. Wurde es erpresst? Aber Sawinkow sprach sich nicht schlechthin schuldig, wie es in solchen Schauprozessen üblich war. Wenn er hoch erhobenen Hauptes seine Fehler bekennt und stolz um Mitgefühl bittet, so kalkulierte er, würde man in ihm einen besonders wertvollen Bundesgenossen erkennen, weil er einen schweren Erkenntnisweg gegangen war. Mögen sie begreifen, dass vor ihnen «ein ehrlicher Mann steht ..., der mehr als ein- oder zwei- oder zehnmal den Kopf in die Schlinge steckte - aus Liebe zum russischen Arbeitervolk …»

So sind die knapp 80 Seiten Anmerkungen, Nachwort, Sawinkows schriftliche Aussage und sein Plädoyer im Prozess mindestens ebenso interessant wie der Roman selbst. Allerdings würde man ohne dessen Lektüre ein falsches Bild von diesem Mann bekommen, den Karl Radek einen «Prinz Hamlet nannte, der nur zu gern ein Cesare Borgia wäre». «Bemerkenswert in seiner Wahrhaftigkeit und Lebendigkeit», urteilte Lenin. Als wahrhaftig müssen wir erkennen, wie George im Roman über Russland nachdenkt, ständig begleitet von Zweifeln über sein eigenes Tun. «Hier ist kein Europa … hier ist Raserei, Revolte und Rausch», heißt es zu Beginn. Später wird ihm der Krieg zuwider, den er in Tagebuchsequenzen sehr konkret vor Augen führt. «Als wüssten wir, für wen wir kämpfen? … Bruder gegen Bruder oder Wanz gegen Zeck.» Die einen töten, die anderen auch.

Es ist nicht seine Revolution, aber sein Krieg ist es auch nicht. «Wir wuchsen auf im Gewächshausklima, im Gefängnis oder im Kirschgarten ... Wir lasen Nietzsche, aber wir wussten nichts von Winter- oder Sommergetreide. Wir wollten das russische Volk erretten, aber kannten es nur in Gestalt der Wanjkas, der Moskauer Kutscher. Wir planten eine Revolution, aber ekelten uns vor Blut. Wir waren Adlige, Freunde des Volkes unter den Hochwohlgeborenen. Wir wurden von Neuen abgelöst. Die aber träumen allein von sich selbst.» Bei den Weißen hatte er auch Adlige um sich, die sich für ihr geplündertes Landgut rächen wollten. Bei den Grünen war er umgeben von Bauern, die von einem eigenen großen Hof und von Reichtum träumten. Und überall gewöhnliche Banditen, denen die Wirren zupass kamen, sich selbst zu bedienen. Bitternis auch im Moskau der Bolschewiki: «Das Gesocks macht sich.» Die Tragik der Adelsrevolutionäre, die von der Revolution überrollt wurden, ihrer Bedeutung beraubt von Menschen, die nicht ihr Kulturniveau hatten. Mit dieser verlorenen Bedeutung hat Sawinkow nicht leben können.

Es werden im Buch mehrere Zeitgenossen zitiert. Am treffendsten vielleicht die Äußerung von Anatoli Lunatscharski: «Boris Sawinkow war ein Artist des Abenteuers, ein in höchstem Maße theatralischer Mensch. Ich weiß nicht, ob er auch sich selbst gegenüber immer eine Rolle spielt, aber anderen gegenüber spielt er immer eine Rolle.» In seinem Roman gibt George mal den adligen Offizier mit feinen Manieren, mal den groben Kosakenreiter, mal den Schmachtenden in romantischer Liebe.

Der Tatmensch ist zugleich ein Grübler. Dass er ein Ideal vor sich herträgt, ist nicht gespielt. «Wer ist für Russland? Wer ist dagegen? … Wir? … Die? Oder wir und die?»

Boris Sawinkow: Das schwarze Pferd. Roman. Aus dem Russischen übersetzt, kommentiert und mit ergänzendem Material versehen von Alexander Nitzberg. Galiani Berlin. 267 S., geb., 23 €.

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