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Rührende Treue
Vor 150 Jahren wurde Thomas Mann geboren. Ida Herz war sein größter Fan
Sie sah ihn gleich. Thomas Mann, der im Februar 1924 von einer Lesung kam, fuhr zu ihrer Überraschung mit derselben Tram von Fürth nach Nürnberg wie sie. Welch eine Fügung. Sie nahm allen Mut zusammen, schlängelte sich zu ihm durch und stellte sich vor. Sie hatte die »Buddenbrooks«, »Königliche Hoheit« und mit besonderer Faszination »Tonio Kröger« gelesen, und sie schwärmte für ihn. Das wollte sie ihm unbedingt sagen. Gute 20 Jahre danach wird er im »Doktor Faustus« mit leichtem Spott an die Begegnung mit der 29-jährigen Ida Herz erinnern. Dann ist sie Meta Nackedey, »ein verhuschtes, ewig errötendes, jeden Augenblick in Scham vergehendes Geschöpf«, das in »kopfloser Flucht durch den vollen Wagen« geflattert war, um ihn erblassend anzusprechen. Sie war Thomas Mann 1922 sogar schon einmal begegnet (woran er sich nicht erinnern konnte) und nahm sich vor, die Gelegenheit zu nutzen. In den nächsten Tagen bündelte sie alles, was sie über seine Lesungen finden konnte, und schickte es nach München. Er bedankte sich für den »freundlichen Brief« und lud sie bei einem Aufenthalt in der Stadt ein, ihn zu besuchen, »am besten um 2 Uhr nachm.«.
»Ich bitte Sie, hochverehrter Herr Dr., nehmen Sie mich in Anspruch, wofür es auch sei.«
Ida Herz an Thomas Mann
Mit diesem Schreiben begann einer der umfangreichsten, aber auch unbekanntesten Briefwechsel Thomas Manns. Er endete erst mit seinem Tod im August 1955. Ida Herz hat danach immer wieder versucht, die Korrespondenz zu veröffentlichen, stieß jedoch auf den heftigen Widerstand der Familie. Katia Mann schlug eine kleine Auswahl vor. Aber auch daraus wurde nichts. Schließlich gab Herz resigniert auf. Und so blieb es bei der Ansicht, die Thomas Manns Tagebücher bieten. Dort geistert sie meist als aufdringliche, nervende Person durch die Buchseiten. Mal ist sie die »hysterische alte Jungfer«, dann wieder »die unselige Herz«. Am häufigsten der Eintrag: »Zu Tische leider die Herz«. Die Biografen, die wohl wussten, dass sie für den bewunderten Thomas Mann weit mehr war als der gefürchtete Tischgast und dass er sie aus guten Gründen schätzte, haben seine Aversionen gern weitererzählt und so für eine Ansicht gesorgt, die schiefer, ungerechter, realitätsferner kaum sein konnte. Energisch widersprochen hat zum ersten Mal nach gründlicher Recherche Friedhelm Kröll in seinem 2001 erschienenen Buch »Die Archivarin des Zauberers«, einem starken Plädoyer für die bislang gründlich verfehlte Frau. Es endete mit dem Appell, endlich den Briefwechsel zu veröffentlichen. Gehört wurde er nicht. Erst jetzt, zum 150. Geburtstag Thomas Manns am 6. Juni, ist die Briefsammlung bei S. Fischer erschienen, mit Sorgfalt ediert und fantastisch kommentiert von Holger Pils. Sie bringt ungekürzt alle überlieferten Schreiben: 335 Briefe und Postkarten von Thomas, einige auch von Katia Mann sowie die 27 erhaltenen Briefe von Ida Herz. Das meiste, was diese dem Meister in die Schweiz und USA schickte, geschätzte 400 Briefe, hat Thomas Mann ins Feuer geworfen. Das tat er mit anderer Post auch. In diesem Fall, meint Holger Pils, wollte er aber offenbar selber bestimmen, was die Nachwelt im Fall einer Veröffentlichung von der »komplizierten Beziehung« erfahren sollte.
Für Ida Herz, die 1894 geborene Nürnberger Jüdin, war diese Freundschaft das Wunder ihres Lebens, und was immer sie dachte und tat, hatte mit ihm, Thomas Mann, zu tun. »Sie schenken meinem trüben Leben so viel unauslöschliches, wunderbares Licht durch Ihre Freundschaft, durch Ihr Werk + Ihr Dasein«, bekannte sie. »Ich möchte Ihnen jetzt gerne etwas sein dürfen!«, hatte sie ihm schon unmittelbar nach dem Machtantritt der Nazis geschrieben, als er gerade den »vollständigen Umsturz« seiner Existenz erlebte und ahnte, dass er nach den Vorträgen in der Schweiz sein Münchner Haus nicht wiedersehen würde. »Ich bitte Sie, hochverehrter Herr Dr., nehmen Sie mich in Anspruch, wofür es auch sei. Ich will alles, was ich kann, für Sie tun!«
Da waren sie nach vielen Briefen und einigen Besuchen längst miteinander vertraut. Im Sommer 1925 hatte Ida Herz wochenlang Thomas Manns Bibliothek geordnet und dabei nach und nach auch die Familie kennengelernt. Jetzt, im Frühjahr 1933, zahlten sich die vielen Stunden in der Poschingerstraße aus. Katia Mann bat sie, weil Sohn Golo sich nicht mehr ins Haus wagen konnte, die Arbeitsmaterialien für die Joseph-Romane zu retten. Es war, hat Ida Herz später bekannt, ein gefährliches Unternehmen. Die Villa, von den Nazis noch nicht beschlagnahmt, wurde von der Gestapo allerdings überwacht. Tapfer und zuverlässig hat Herz, manchmal im Dunkeln, Schriften und Bücher in Kisten verstaut und an eine Basler Deckadresse geschickt. Dank ihrer Umsicht ging nichts verloren. Mann konnte, wieder im Besitz der reichen Sammlung zum Joseph-Thema, beruhigt am Roman weiterarbeiten. Ida Herz indessen wurde denunziert, kam in Untersuchungshaft und durch eine Amnestie nach sechs Wochen wieder frei, wurde bald darauf erneut angeschwärzt, floh Mitte September 1935 zunächst nach Zürich und dann nach London, wo sie bis zu ihrem Tod im Februar 1984 blieb.
Auch in den Jahren, die eine Begegnung nicht möglich machten, war sie über den Alltag der Familie glänzend informiert, und das macht diesen Band so bedeutsam: Er fasziniert durch seine intensiven Blicke in die Lebenswelt der Familie Mann. Er, Thomas, erzählte in meist langen Briefen vom neuen Haus in Kalifornien (»So schön werden wir nie gewohnt haben wie nun im ›Elend‹«), von Schreibstunden und Schreibkrisen, von den überraschenden Erfolgen des »Joseph« in den USA, von Krankheiten und Besuchern, Kindern, Unternehmungen und Reisen, Plänen und seinem politischen Einsatz gegen Nazideutschland. Und natürlich schickte er weiterhin Zeitungsberichte, Drucke und Bücher fürs Archiv. Sie revanchierte sich mit Briefen und »guten Dingen«, vielen Neuerscheinungen und sogar mit Ostereiern. Noch herrschte, von Verstimmungen abgesehen, Eintracht. Das änderte sich, als Thomas Mann nach dem Krieg wieder in Europa war. Herz glaubte, sich ein Recht auf Nähe erobert zu haben. Er fürchtete Nähe. Schon in den USA hatte er seine reiche Gönnerin Agnes E. Meyer, die »wunderbare Frau«, die ihm fast jeden Wunsch von den Lippen ablas, ihn aber auch vorsichtig zu lenken versuchte, im Tagebuch als hysterische und törichte Person bezeichnet. Es ging Ida Herz, wann immer sie nach Zürich kam, nicht besser. Sie fühlte sich durch ihre Hilfsbereitschaft und die vielen Freundschaftsdienste privilegiert. Er, gereizt durch den Distanzverlust, gab sich Mühe, freundlich zu sein. Aber er litt. Einmal, 1953, verlor er, mit ihr allein gelassen, alle Beherrschung, »sprang auf und ging, zerquält und verstört«, aus dem Zimmer, las noch ein bisschen und nahm eine Tablette, um zu schlafen. Er wusste, es kam in diesen Momenten vieles zusammen: seine Arbeitsnöte, die Unzufriedenheit, vielleicht der Föhn, das Haus in Erlenbach am Zürichsee, das er nicht mochte, dazu die »immerfort begegnende Schwebe-Fee von Mädchen«.
Herz war schockiert, als sie Ende 1978 im zweiten Tagebuchband las, was er über sie geschrieben hatte. Eine Weile rang sie um Fassung, aber ihre Bewunderung für Autor und Werk ist geblieben. Und trösten konnte sie sich mit dem Brief, den er ihr im Oktober 1954 zum 60. Geburtstag geschickt hatte. Zu sagen sei, schrieb er da, »dass wir beide nun schon seit so vielen Jahren und Jahrzehnten aneinander teilgenommen haben, der eine am Leben des anderen, Sie mit rührender Treue an meinem Schicksal, meinem Schreiben und Treiben, und ich mit großer Achtung und Sympathie an Ihrem Ergehen und Wandeln; denn wie Sie sich geführt haben nach der Vertreibung aus Deutschland, sich gehalten und gearbeitet und das Leben bestanden haben, das ist so brav und ehrenhaft, dass es wirklich jeder Achtung und Sympathie und Freundschaft wert ist.«
Thomas Mann & Katia Mann: »Liebes Fräulein Herz«. Briefwechsel mit Ida Herz 1924 – 1955. Hg. von Holger Pils, S. Fischer, 799 Seiten, geb., 38 €.
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