Unschuld trifft auf Schuld

Nationale und internationale Gastspiele beim Kinder- und Jugendfestival »Augenblick mal!«

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 4 Min.

Alle zwei Jahre heißt es für Berliner Kinder und Jugendliche: »Augenblick mal!« Dann nämlich laden verschiedene Spielstätten zum gleichnamigen Festival. Diesmal sind es mit dem Theater an der Parkaue, dem Grips-Theater im Podewil, dem Theater Strahl, den Sophiensaelen und dem Theaterdiscounter fünf Häuser, auf die sich die 13 geladenen Stücke verteilen. Zehn von ihnen stammen aus nationaler Produktion, je eins kommt aus Belarus und den Niederlanden, ergänzt durch eine kubanisch-schwedische Koproduktion.

Dass es in komplizierten Zeiten nicht um nette Märchenadaptionen gehen kann, liegt auf der Hand. Wie aber wählt man aus 400 gesichteten Bewerbungen jene aus, die zur 14. Ausgabe des Festivals an sechs Spieltagen nach Berlin geholt werden? Stellvertretend für seine vier Mitkuratoren nennt Christian Schönfelder, Dramaturg am Jungen Ensemble Stuttgart, als Kriterium Qualität. Ist das Angebot spannend? Beherrschen die Akteure ihr Handwerk? Haben sie etwas mitzuteilen? Auch ästhetische Fragen sind wichtig: Finden Poesie und Realität zu anregender Form? Wie spiegelt sich das Heute im Stück? Wird nur gespaßt - oder werden die Zuschauer ernst genommen? In, so versichert er, ziemlicher Einigkeit kam die Auswahl zustande.

Gleich am Eröffnungsabend kann man sich zwischen drei Stücken entscheiden. Im Theater Strahl läuft als Koproduktion mit der Choreografin Wies Merkx »The Basement«. Vier Tänzer und zwei Musiker treffen in einem Kellerloch zusammen, fühlen sich einsam, tragen Konflikte aus, erleben Stress, doch auch Nähe und Gemeinsamkeit, emotional balanciert und physisch intensiv. In der Parkaue begegnen sich der elfjährige Mika und der 32-jährige Walter in »Eins zu eins«, einer Produktion des Jungen Theaters Bremen. Der eine ist im Werden, der andere im Erinnern, wie er wurde, was er heute ist. Zwei Menschen verschiedenen Alters mit Fragen an ihre Körper und Prägendes aus dem Umfeld. In den Sophiensaelen zeigt das Thalia Theater Halle, wie die hochbegabte, indes isolierte Lisa durch einen Außerirdischen den Anstoß empfängt, sich besser ins Leben zu integrieren. »Mein ziemlich seltsamer Freund Walter« nach einem Text von Sibylle Berg punktet mit Slapstick-Elementen und fantasievollem Spiel auf schiefen Ebenen.

Alle Stücke laufen auch an anderen Tagen, so wie die »Konferenz der wesentlichen Dinge« von pulk fiktion aus Köln. Die interaktive Performance forscht, was wäre, könnte man sich die Familie selbst aussuchen: Demokratieprozesse, Machtspiele und Wahlverwandtschaften wären zu bewältigen, Verantwortung käme zum Tragen. Erzählung, Puppen- und Schattenspiel mischen sich beim Theater Waidspeicher Erfurt in »Als mein Vater ein Busch wurde und ich meinen Namen verlor«. Als Todas Vater in den Krieg muss, wird das Mädchen zur Mutter ins Nachbarland geschickt. Auf der abenteuerlichen Reise, die sehr aktuell anmutet, trifft sie raffgierige Schlepper, kommt in eine andere Kultur mit fremder Sprache.

Fröhlicher geht es in »Hip Hop Hurray« der Amsterdamer Gruppe Don’t Hit Mama zu. In der Tanzsprache Jugendlicher geht es um das Ich und den Anderen, um Kennenlernen, Händeschütteln und darum, dass vieles zusammen mehr Spaß macht. Wie zwei unzertrennliche Freundinnen ihren letzten gemeinsamen Sommer erleben, rauchen, abhängen, bis plötzliche Änderungen alles in Gefahr bringen, führt das Comedia Theater Köln in »Tigermilch« vor. Und auch »Kindheit« vom Freiburger Theater im Marienbad umkreist die akuten Gefährdungen beim Erwachsenwerden.

Mit acht Spielern kämpft der belorussische Regisseur Yevgieny Korniag in »Latent Men« gegen gesellschaftliche Stereotype an. Männer und Frauen oszillieren zwischen Macht und Ohnmacht, Umarmungen werden zum Würgegriff, Liebe kann tödlich sein. Die Rollen wechseln, bis die Geschlechter verwischen. Ein Stück kraftvollen Bewegungstheaters mit Gender-Botschaft.

Politisch wird es bei »Sorry« des nigerianischen Choreografen Segun Adefila im Auftrag der Gruppe Monster Truck. Waisen aus Lagos stoßen auf einen fetten Weißen, postkoloniale Chancenlosigkeit auf sattes Europa, Unschuld auf Schuld. Als Austausch zwischen Schweden und Kuba sieht die Stockholmer Somos Dance Company »Trans(e)ición«: eine Reise von Voodoo zu Trance, mit HipHop und afrokubanischer Folklore im Streben nach Spiritualität.

Für welches Alter sich welche Vorstellung eignet, weist das Programm aus.

25. bis 30.4., www.augenblickmal.de, Kartentel.: (030) 55 77 52 52

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