Tore und Selbsttore

»Das Jahr als ...« und »The Good German« im Wettbewerb

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: ca. 4.0 Min.
Sport ist in der Erinnerung meist prägender als Politik. Das geht einzelnen so und auch ganzen Völkern. Brasilien wurde 1970 zum dritten Mal Fußballweltmeister. Daran erinnert sich Mauro. Auch daran, dass seine Eltern in diesem Jahr einen langen Urlaub machten. Wir haben teil an einer Reise in die Erinnerung, in die eigene und in die Brasiliens. Cao Hamburger erzählt uns die Geschichte eines Sommers, indem er Straßen, Wohnungen und Fernseher zeigt. Vor allem aber ist es die Geschichte des zwölfjährigen Mauro, der in diesem Sommer ein anderer wird. Der kindlich-erkundende Gestus zieht sich durch. Wir sehen mit Mauro alles wie zum ersten Mal. Und gleichzeitig sind wir Teil einer einzigen Rückblende. Die Eltern haben es eilig. Schnell rufen sie den Großvater an, dass sie Mauro vorbei bringen werden. Schnell setzen sie ihn vor dessen Tür ab. Aber der Großvater ist nicht da und kommt auch nicht wieder. Er ist plötzlich gestorben. Und ebenso plötzlich steht Mauro allein da. Das Selbstverständliche ist nicht mehr selbstverständlich. Denn der Urlaub der Eltern ist in Wirklichkeit eine Flucht vor politischer Verfolgung. Ein Nachbar des Großvaters nimmt Mauro zu sich. Der alte Schlomo nennt ihn nun Moischele, denn der Großvater lebte ganz in seiner jüdischen Glaubenswelt, von der Mauro nichts weiß. Ein Kind ist das letzte, was ihm in seinem großen Lebensernst passieren sollte. Fisch zum Frühstück! Mauro macht, was alle Kinder tun, wenn ihnen ein Unglück passiert, das sie nicht verstehen: Er verweigert sich jeder Freundlichkeit. Wie hier der alte Mann und Mauro in einer WG zu leben versuchen, das ist nicht nur skurril, sondern auch von einer zunehmenden, sich betont sachlich gebenden Zärtlichkeit. Ohne viele Worte zeigt uns Hamburger nun, wie Mauro seine neue Umwelt erkundet. Straßenbilder vom Jubel über die Siege Brasiliens sehen wir nicht. Der Film lebt von seiner intimen Sicht auf lauter zurückgezogene Existenzen. Man ist vorsichtig, Angst prägt die Atmosphäre, macht selbst aus der Freude über geschossene Tore einen privatimen Akt. Ein Land in öffentlicher Apathie. Schlomo hat einen skeptischen Blick über den Zeitungsrand seiner jüdischen Zeitung hinweg auf den Fernseher und was da an künstlichem Jubel verbreitet wird. Er blickt auch missbilligend auf Brasiliens Straßen. Wen vermag nun diese nichtöffentliche Begeisterung über Brasiliens Fußballer aufzuwecken? Das Private, die Runde von Freunden, sie bekommen in jeder Diktatur etwas Subversives. Mauro versteht nichts von diesen Milieus, aber er beobachtet sie aufmerksam - um sich nun daran zu erinnern. Erst nach und nach setzt sich so ein Gesamtbild zusammen. Im Sommer 1970 zieht sich ein Land zurück vor den Fernseher. Auf der Straße macht die Polizei Jagd auf Oppositionelle. Aber soll man sie ihr etwa völlig überlassen? Mauro lernt schnell. Auch wenn er nicht Moischele werden will, so findet er Fischessen zum Frühstück schon bald nicht mehr so furchtbar. Er wartet auf seine Eltern - Brasilien wartet auf seine Befreiung. Ein erster Schritt dahin für Mauro und sein ganzes Land ist es, dass Pelé und Co tatsächlich Weltmeister werden. Wer so was schafft, muss keine Diktatur akzeptieren. Aber bis zum Endspiel gilt es noch zu warten. Was gegen die Melancholie des Wartens hilft, ist erstens eine gesunde Ungeduld und zweitens die Fähigkeit, sich zu befreunden. Mauro hat beides und davon erzählt »Das Jahr als meine Eltern im Urlaub waren« in ungewöhnlich poetischen Bildern. Steven Soderbergh war zuletzt vor drei Jahren mit »Solaris« im Berlinale-Wettbewerb. Sein neuer Film heißt »The Good German«, wieder mit George Clooney. Soderbergh will zweierlei. Zuerst einen Film über das befreite Berlin im Sommer 1945: Die Stadt als Beute, aus der sich jede Besatzungsmacht nimmt, was sie braucht. Eine Mischung aus »Die Mörder sind unter uns« und »Richard Kimble auf der Flucht«. Natürlich geht es dabei auch um Moral: Schuld und Sühne auf amerikanisch. Wer sind die Guten und die Bösen? Aber Soderbergh ist natürlich keiner von den ganz Dummen, obwohl »The Good German« manchmal dumm aussieht. Deshalb will er noch etwas anderes und das vor allem: sich mal so richtig in Filmzitaten von »Casablanca« bis »Die Kraniche ziehen« austoben. Gewöhnlich nennt man so etwas eine Hommage. Wahrscheinlich will er sich aber darüber lustig machen. »The Good German« ist ein einziger Witz. Fragt sich nur, ob gewollt oder ungewollt. Aber vor allem: Wird aus soviel ironisch gebrochener Nostalgie ein guter Film? George Clooney schaut als amerikanischer Kriegsreporter in diesem Schwarz-Weiß-Nostalgiefetzen immer so, als wüsste er nicht, in welchem Film er sich gerade befindet. Kein Wunder, der Zuschauer weiß es auch nicht, wir springen von einem Zitat zum anderen. Wahrscheinlich weiß es nicht einmal der Regisseur. »The Good German« spielt während der Potsdamer Konferenz, wobei man von Handlung bei dieser Aneinanderreihung von Klischees nicht sprechen sollte. Alle jagen alle wegen aller möglichen Geheimnisse. Und Cate Blanchett schaut am geheimnisvollsten. Ich bete nur für Soderbergh, dass dieses...

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