Das Geschoss

Präziser als Karl Marx hat niemand die »ganze ökonomische Scheiße« des Kapitalismus seziert. Ein nd-Spezial zur Kritik der Politischen Ökonomie

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 4 Min.

Was fällt Ihnen bei der Zahl 23 ein? Wenn Sie jetzt an das Waringsche Problem denken, sind sie wahrscheinlich Mathematiker. Wenn Ihnen stattdessen der kosmische Code, Synchronizitäten und Verschwörungen in den Sinn kommen, haben Sie vermutlich die satirische Abenteuergeschichte »Illuminatus« gelesen – oder irgendeinen der Nachfolger, die aus der 23 ein Mysterium der Populärkultur machten.

Es ist allerdings auch nicht ganz abwegig, dass Ihnen zuallererst etwas ganz anderes bei der Zahl 23 einfällt: »Das Kapital« von Karl Marx. Dass der erste Band sich unter dieser Ziffer in den Marx-Engels-Werken, kurz MEW, finden lässt, gehört sozusagen zum Populärwissen des Marxismus, ob der nun in Pflichtseminaren gelernt werden musste oder gegen den theoretischen Strich gebürstet wird. Und wann immer man in ökonomiekritischen Texten auf eine Fußnote stößt, in der auf MEW 23 verwiesen wird, weiß man: »Die blauen Bände!«

Was über Marx gewusst wird, ist freilich immer ein Spiegel der jeweiligen Verhältnisse, also auch davon, welche Stellenwerte einer Kritik der Politischen Ökonomie und dem Kapitalismus beigemessen werden. 1983 erschien im Westen ein kleines rote Bändchen mit dem Titel »Was bundesdeutsche Schüler über Karl Marx gehört haben«. Wenn daraus in dieser Ausgabe zum 150-jährigen Erscheinen von »Das Kapital« zitiert wird, dann keineswegs, um die Schüler bloßzustellen. Was da im Westen über Marx und dessen Theorie freiwillig gewusst wurde, war in vielen Fällen nicht weniger, als Gleichaltrige in der DDR unfreiwillig aufsagen konnten. Die Sammlung von Aufsätzen ist eher ein Urteil über ein Schulsystem, das einem der ganz Großen der Gesellschaftskritik allenfalls einen Platz am Katzentisch des Denkens zuweisen wollte.

Hat sich das geändert? 150 Jahre nach dem Ersterscheinen von Band 1 des »Kapital« blicken wir zurück auf eine Kritik der Politischen Ökonomie, die immer noch aktuell ist. Wir fragen, was Feministinnen über Marx sagen und wie »grün« man sein wohl wichtigstes Werk lesen kann. Wir haben mit Menschen gesprochen, die Marx an der Uni gelehrt haben, und lassen andere zu Wort kommen, die theoretisch über ihn hinauswollten. Was das »Kapital« kostet, was man bei Marx über eine Welt aus Algorithmen und Automaten lesen kann, die es damals noch gar nicht gab, warum die Linken über verschiedene Lektüren des »Kapital« streiten – all das lesen Sie in diesem nd-Spezial. Und wenn Sie wieder einmal nach der Zahl 23 gefragt werden, dann wissen Sie schon, was Sie sagen können.

Verstehen, überwinden
»Hatte Marx doch recht?« Das ist die falsche Frage. Ein Lob des Revisionismus von Tom Strohschneider

Kapital-Lektüren: Die ersten 150 Jahre
Von Marx zur MEGA, vom Produktionsprozess zur Werttheorie. Ein kurzer Lehrgang von Michael Heinrich

»Wir hätten es wagen müssen«
Erika Maier war Professorin für Politische Ökonomie des Sozialismus in der DDR. Ein Gespräch über Karl Marx, die Planwirtschaft und gescheiterte Reformversuche

Judith Butler und die Suche nach der sozialen Frage
Seit Jahrzehnten diskutieren Feministinnen über Kapitalismus und Patriarchat – unter dem Druck von Rechts wird es nicht einfacher. Von Elsa Köster

Wo Marx Lesekreise zog
Georg Fülberth über »Kapital«-Alphabetisierung, die Westlinke und Interpretations-Turniere

Der ausgetriebene Geist
Prophet der Krise ohne Vision einer Alternative? Wie »Das Kapital« von Wissenschaft und Politik in ein Trümmerfeld verwandelt wurde. Michael Brie über ein heute unbekanntes Meisterwerk

Goldrichtig gelegen
Auch wenn das Edelmetall im modernen Geldsystem keine Rolle mehr spielt, wurde die Geldware damit nicht abgeschafft. Von Simon Poelchau

Stoffwechselprobleme
Marx’ »Kapital« im Kapitalozän: Die grüne Frage und die blauen Bände. Von Kohei Saito

Was das Kapital kostet
Nichts als raschen Absatz: Wie aus drei Talern anderthalb Millionen Euro wurden. Eine kurze Geschichte über den Preis eines Buches. Von Tom Strohschneider

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