Kein Weg zurück

Castorfs Volksbühne: Ein Bildband dokumentiert die wilden Jahre

  • Frank Schirrmeister
  • Lesedauer: 5 Min.

Dieser Text muss mit einem Bekenntnis beginnen: Ich konnte mit dem Theater, für das die Volksbühne steht, nie etwas anfangen. Der erste Besuch einer Castorf-Inszenierung Anfang der Neunziger endete damit, dass die Frau, die mich begleitete, in der Pause fluchtartig das Theater verließ - womit auch das Date beendet war. Mein letzter Versuch im vergangenen Jahr, Kresniks Stück »Die 120 Tage von Sodom«, das als blutiger Schocker angekündigt war, ließ mich nurmehr ratlos und gelangweilt zurück ob der Unverständliches schreienden Protagonisten und der plattitüdenhaft abgedroschenen Kapitalismuskritik in Form von abgeschnittenen Pimmeln und zerhackten Babys.

Und doch, es muss gesagt werden: Je suis Volksbühne! Die unfreiwillige Abwicklung des Theaters am Rosa-Luxemburg-Platz hinterlässt auch bei mir eine schmerzhafte Leerstelle, war das Haus doch viel mehr als nur eine Spielstätte für unterschiedlich zu bewertende Dramatik. Die Volksbühne war ein Gesamtkunstwerk, und selbst die Tatsache, dass das Publikum die zum Teil vielstündigen Inszenierungen manchmal in Scharen verließ, gehörte zum Selbstverständnis. Auch wenn der ganze bedeutungsschwangere Avantgardismus des Castorf-Theaters oftmals mehr anstrengend denn erhellend war - gut, dass es ihn gab! Zum Gesamtkunstwerk gehörten aber neben den Inszenierungen eben auch die sonstigen Veranstaltungen im Hause - Lesungen, Konzerte, Podiumsdiskussionen, Kuttners Videoschnipselabende, die Nächte im Roten Salon -, die bis weit in die Stadtgesellschaft ausstrahlten und einen Diskurs prägten, der sich den herrschenden Verhältnissen nicht bedingungslos ergeben wollte.

Die Abschiedsstimmung, die derzeit das Haus umweht, ähnelt nicht ganz zufällig jener, die in den alternativen Kreisen Ostberlins vor der Einführung der D-Mark herrschte. Eine Mischung aus Resignation, Larmoyanz, Endzeit, aber auch eine gewisse Erwartung, im Angesicht des Unabänderlichen vielleicht sogar Neugier, auf das Neue, Unbekannte. Der Vergleich mit 1990 ist auch deshalb nicht zu weit hergeholt, weil dem Diskurs, für den die Volksbühne stand, stets noch etwas originär Ostdeutsches anhaftete. Mit seinem gepflegt widerständigen Pathos hat das Haus bis heute ein wenig von der 1989er Aufbruchstimmung bewahrt. Weniger Wohlmeinende könnten freilich auch sagen: konserviert. Man kann schon nachfühlen, dass für Leute wie Tim Renner als Vertreter einer heimatlosen globalisierten Creative Class die Volksbühne eine Introvertiertheit verkörpert, die sie mit ihrem verinnerlichten kapitalistischen Innovationsfuror gar nicht nachvollziehen können. Aber muss man deshalb gleich das ganze Ensemble und alles, wofür es steht, zerschlagen?

Wie auch immer, die Argumente sind alle ausgetauscht, selbst Klaus Lederer als Kultursenator und bekennender Volksbühnenfan hat sich mit dem Ende abgefunden. Die Trauerarbeit kann also beginnen. Ein profunder Beitrag hierzu ist William Minkes opulenter Bildband »No Way Home«, frei übersetzt etwa »Nur nach Hause gehn wa nicht«. Minke arbeitet seit 2004 an der Volksbühne als Tontechniker. Eigentlich ist er Fotograf, ausgebildet an der Ostkreuzschule. Das Theater ist der Brotjob und gleichzeitig mehr als das, denn im Kosmos Castorf sind die Übergänge zwischen den Mitarbeitern der Gewerke und dem Ensemble fließend und jeder irgendwie Künstler. Siehe auch Milan Peschel, der als Tischlerlehrling und Bühnentechniker an der Volksbühne anfing und schließlich als Schauspieler am Haus reüssierte.

Minke arbeitet in seiner Freizeit auch als DJ, und dieser Umstand scheint nicht unwichtig zu sein für das Entstehen dieser Bilder, denn gefeiert wird auf ihnen viel. Minke beschreibt das Leben und Arbeiten am Theater als permanenten Exzess, was der verbreiteten Sichtweise von der Volksbühne als einem radikalen Ort entspricht. Klassische Hinter-den-Kulissen-Arbeits- und Probenfotos sollte der Betrachter nicht erwarten. Vielmehr versammelt der Band Bilder, die während Minkes Leben in und mit der Volksbühne entstanden sind. Unverkennbar waren die dreizehn Jahre von 2004 bis 2017 eine intensive und prägende Zeit für ihn und alle Beteiligten. Am Rande der Aufführungen, Proben und Pausen, auf der Straße, in der Kantine, in Hotelzimmern auf Gastspielreisen und meistens nachts hat er die stillen, aber mehr noch die exzessiven Momente des Ensemble-Lebens festgehalten. Ein Buch lang dürfen wir teilhaben am Treiben einer Bohème, die ihren Existenzialismus mit beeindruckender Hingabe zelebriert. In Zeiten von Gesundheitswahn, Schrittzähler-Apps und Body Shaming ist die Menge an Zigaretten und Alkohol, die konsumiert wird, sowie die erkennbare Zerrüttung nach rauschhafter Nacht von bemerkenswerter Radikalität. Andererseits passt der demonstrative Gebrauch von Rauschmitteln und die (Selbst-)Inszenierung als Avantgarde wiederum ganz gut in das Selbstverständnis Berlins, was im Umkehrschluss bedeutet, dass ein Ort wie die Volksbühne so wohl nur in dieser Stadt existieren konnte.

Was für ein Verlust! Die Schauspieler werden sicherlich weitermachen, an anderen Theatern. Sie sind, wie Milan Peschel in einem Interview sagte, »Freaks, Einzelkämpfer, Individualisten«, die überall einen Ort finden. Aber der Geist und die Energie des Hauses gehen verloren oder wandern woandershin. Tragisch eigentlich auch für Tim Renner, denn die Zerschlagung der Volksbühne wird das Einzige sein, was von ihm als Berliner Kulturstaatssekretär in Erinnerung bleibt.

Die große Nähe zu den Protagonisten ist ein unverkennbarer Wert des Buches. Minke war eben nicht distanzierter Beobachter, sondern involviert ins Geschehen, und ist, auch wenn nicht zu sehen, stets Teil des Bildes. Es gab weder einen Plan noch einen Auftrag für die Fotos, sie entstanden meist aus der Situation heraus, spontan und unzensiert. Sein Buch ist ein persönlicher Rückblick, denn auch er wird das Haus verlassen. »No Way Home« ist ein schöner und so gar nicht larmoyanter Abschied, denn zum Zeitpunkt der Entstehung der Bilder wusste ja noch niemand, dass die Uhr tickt. Zum Requiem wird das Buch erst durch das absehbare Ende. Indes ist der Kreislauf von Werden und Vergehen im Grunde etwas sehr Vitales, und nie gab es ein lebendigeres Totengedenken als hier. Oder wie René Pollesch es im Buch schreibt: »Zwischen 2004 und 2017 gab es wahrscheinlich nie schönere Menschen … Aber die Annahme, es könnte so sein, so ewig, für immer, die lässt mich erschaudern.«

William Minke: No Way Home. Volksbühne 2004 - 2017. Kerber-Verlag, 288 S., geb., 29,95 €.

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