Ein Monument von Gelehrsamkeit und Spott

Der kasachische Dichter Oljas Süleymenov zählte zur Generation der Beat-Poeten in der Sowjetunion

  • Mario Pschera
  • Lesedauer: 3 Min.

Stalin ist tot, lang lebe Stalin. Der Geist des Schnurrbartträgers sitzt fest in Hirnen und Herzen der Nachkriegssowjetunion. Dann zieht Tauwetter auf. Dies ist die Stunde der »Sechziger«: Eine Handvoll junger Dichter aus dem Umfeld des Moskauer Gorki-Literaturinstitutes macht sich auf, die Literaturszene aufzumischen. Nicht in Wohnzimmerlesezirkeln, sondern in Studentenklubs, auf öffentlichen Plätzen, in Theatern. Wurden die Rock’n’Roll- und Jazzfans der 1950er Jahre, die »Stilyagi«, noch schikaniert, von Hardcore-Komsomolzen wie Milizionären gleichermaßen verprügelt, manche gar eingesperrt, profitiert die Generation Beat vom Drang nach Öffnung in Denken und Sprechen, tritt in Klubs, Theatern und Stadien vor Tausenden von Zuhörern auf.

Einer von ihnen ist Oljas Süleymenov, angehender Literaturübersetzer, der sich nicht wohlfühlt in einer Literatur, die die nichtrussische Dichtung der »kleinen Völker« mehr als ein Rohmaterial begreift, als paternalistisch-wohlwollend zu fördernde Aborigines-Kultur. Der junge Kasache ist begabt, aber renitent, deklamiert seine Verse lieber im Mädchenwohnheim, als sich altbackenen Theorien zu widmen. Er fliegt vom Literaturinstitut, seine Texte werden überall abgelehnt. Er sucht den Rat eines renommierten Außenseiters: Nâzim Hikmet, kommunistischer Exilant, gefeierter Friedenskämpfer und gehasster Kritiker des Bürokratismus, Begründer der türkischen Moderne, ermutigt den jungen Dichter, der Bevormundung zu trotzen, die »leeren Buchregale« nach dem Großen Terror der 1930er wieder zu füllen.

Süleymenov wird als Sohn eines roten Reiteroffiziers 1936 geboren, der Vater ein Jahr später verhaftet und im Lager erschossen. Trotzdem wird der Junge gefördert, nach einer Ausbildung als Geologe nach Moskau delegiert und 1961 vom Komsomol beauftragt, ein Gedicht zum Weltraumflug Gagarins zu schreiben. »Erde, verneig dich vor dem Menschen« macht ihn berühmt, und plötzlich stehen ihm alle Türen offen.

Seine Gedichte werden publiziert, er reist ins Ausland, steht mit Alan Ginsburg auf den Bühnen von New York. Acht Jahre nach Erscheinen seines ersten, noch kaum beachteten Gedichtbandes ist Süleymenov Anwärter auf den Lenin-Preis. Zu Lenins 100. Geburtstag soll er ein Poem schreiben - daraus wird das »Tönerne Buch«, ein monumentales Langgedicht über den Skythenführer, der aus Liebe zu einer babylonischen Tempelhure den Krieg verrät, um den Frieden zwischen den Völkern zu gewinnen.

Ein Skandal, dem 1975 mit der Veröffentlichung seines Großessays »Az-i-ja« (Asien/Ich und ich) der nächste folgt. Darin entziffert Süleymenov die Zurichtung des russischen »National«-Epos im 19. Jahrhundert als Instrument kolonialer Herrschaftsansprüche. Seine philologische Spurensuche im »Igorlied« trifft das großrussische Selbstverständnis im Kern. Die Kritiken sind vernichtend, seine Bücher werden aus öffentlichen Bibliotheken entfernt. Zeitweilig erhält er Publikationsverbot. Seine auch internationale Popularität bewahrt ihn vor Schlimmerem.

Er ist Mitbegründer der kasachischen Anti-Atom-Bewegung, 1989 wird der Kommunist Süleymenov in den Obersten Sowjet gewählt. Dort fordert er die Rehabilitierung der kollektiv deportierten Völkerschaften. Während der Unruhen in der Zerfallsphase der UdSSR gründet er eine Partei und gilt als aussichtsreicher Gegenkandidat von Nazarbayev, der die Wahl gewinnt und bis heute Kasachstan regiert. Auf gewissen Druck hin verlässt Süleymenov 1995 als Diplomat u. a. bei der UNESCO das Land und engagiert sich für bedrohte und verfolgte Minderheiten. Sein literarisches Werk ist ein Monument von Gelehrsamkeit und Spott, eine wuchernde Gedankenarchitektur aus altslawischer Mythologie, alttürkischen Epen, Futurismus und Surrealismus, Fantastik und Historie, Underground-Pop und Wissenschaftsgroteske, am ehesten vergleichbar mit den späten Montagen Heiner Müllers. Der geringste Teil ist bislang adäquat ins Deutsche übersetzt.

Gedichte des poetischen Synkretisten, kämpferischen Menschenfreundes und Wanderers zwischen Orient und Okzident, der an diesem Donnerstag seinen 81. Geburtstag feiert, werden am 20. Mai, 16.30 Uhr, bei »nd live« aufgeführt.

Oljas Süleymenov: Eine Minute Schweigen am Rande der Welt. Gedichte zweisprachig. Dagyeli Verlag 2009, 14,80 €.

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