Ziehendes Volk

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

Im 19. Jahrhundert wurde es hierzulande zur Mode, die Deutschen in Stämme aufzuteilen, aus denen sich dieser Mode nach die deutsche Nation gebildet habe. Demnach gab es Schwaben, Baiern, Sachsen, Franken, Thüringer und Friesen. Historiker tun sich heute etwas schwerer mit dieser Klassifizierung, weil nicht bei jedem Leibeigenen, der zum Beispiel im 11. Jahrhundert auf der Scholle eines fränkischen Adeligen am Rhein lebte, die Herkunft eindeutig zugeordnet werden konnte; nicht einmal die Sprache war die gleiche wie die am Hofe, von der Kultur gar nicht zu reden. Wer’s genauer wissen will, der lese bei Carl Zuckmayers »Des Teufels General« nach. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war halt schon damals das, was sein Nachfolger heute noch ist: ein Land für Durchzügler, von denen sich die einen dauerhaft, die anderen nur zeitweise ein paar Generationen lang niederließen.

Heute ist Berlin die Hauptstadt dieses ziehenden Volkes. Auch meine Frau und ich hat es vor zwei Dezennien aus Franken hierher gezogen. Das sollte man wissen, um Folgendes richtig zu verstehen. Der Kaskelkiez in Lichtenberg ist, wie man neudeutsch sagt, »durchgentrifiziert«. Nun ja, nicht ganz so wie in Friedrichshain oder Prenzlauer Berg; hier reiht sich zum Glück keine Touristenkneipe an die andere und auch der einzige Bio-Laden im Kiez ist klein, überschaubar und sympathisch unorganisiert. Eine Nachbarin umschrieb die Arbeitsweise des Verkaufspersonals einmal mit der Formulierung »betreutes Einkaufen«.

Viele der Neuankömmlinge sind auf der Suche nach Anschluss. Unerklärlicherweise suchen einige diesen nicht in besagtem Bio-Laden oder beim Smalltalk im vietnamesischen Spätkauf, sondern in einer Kiez-Chatgruppe im Internet. Meine Frau hat sich dort angemeldet, um mitzubekommen, was es Neues von den Neuen gibt. Meine Frau kennt hier sonst jeden, und jeder kennt sie, sie ist ein Kommunikationswunder.

Kürzlich beschwerte sich in besagter Chatgruppe ein Zugezogener, dass es hier kein anständiges Brot zu kaufen gebe. Dabei gibt es neben der türkisch geführten Filiale der Aufbackbrötchenkette zwei Läden, in denen Einheimische (ja, Einheimische, die leben nämlich schon länger hier, also zehn Jahre und länger!) selbst gebackenes Brot verkaufen. Einer davon gehört Sven, der hier schon gelebt hat, als Lichtenberg für die Schnösel aus Kreuzberg, Mitte, Friedrichshain und Prenzlauer Berg noch als »No Go Area« galt; der andere ist »Eis-Steffen«, der deshalb so heißt, weil der Eigentümer auf den Vornamen Steffen hört und er in seinem Laden selbst hergestelltes Eis verkauft. Die Saison bei »Eis-Steffen« beginnt, wenn die Außentemperaturen dauerhaft über fünf Grad Plus liegen; ab und an gibt es für kurze Zeit selbst gebackenes Brot aus dem Backofen im Hinterhof.

Sollte der Zugezogene noch neu hier sein und weder Sven noch den »Eis-Steffen« kennen, wäre das nicht schlimm. Mein Eheweib hatte aber sogleich eine Vermutung, woher der Wind weht. »Das war bestimmt ein Schwabe. Soll er doch wieder zurück in den Prenzlauer Berg, wenn es ihm hier nicht gefällt.« Ja, so sind wir Franken: Immer zur Assimilation bereit!

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