Aus der Hölle ins Leben, vielleicht

Edward St Aubyns fünf Melrose-Romane liegen jetzt erstmals in einem Band vor

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Fünf Entwicklungsromane auf knapp 900 Seiten: Das ist eigentlich beherrschbar, da muss man noch nicht die Übersicht verlieren. Etwas anderes jedoch ist die Geschichte selbst, die Familie, um die es geht, und die Verhältnisse in ihr: »Schöne Verhältnisse«, »Schlechte Neuigkeiten«, »Nette Aussichten«, »Muttermilch« und »Zu guter Letzt« - der Zyklus, in dem der Engländer Edward St Aubyn (Jg. 1960) die Geschichte seines Alter Ego Patrick Melrose erzählt, reicht von dessen gewaltgetränkter Kindheit über eine lückenlose Drogenjugend bis zum Tod seiner Mutter und der unsicheren Hoffnung, aus der Hölle vielleicht doch noch den Weg ins Leben zu finden. Die aufeinander aufbauenden, hier erstmals in einem Buch versammelten »Melrose«-Romane fordern den Leser nicht wegen ihrer Länge, sondern wegen des persönlichen wie gesellschaftlichen Jammertals, in das Patrick hineinzieht.

Die Existenzbedingungen der Melroses und ihres Umfelds sind alles andere als prekär. Es geht um englische Aristokratie, also blankes Elend. Nicht materiell, doch in nahezu jeder anderen Hinsicht. St Aubyn, Nachfahre einer der ältesten Adelsfamilien, der einmal fast die Hälfte Cornwalls gehörte, will die Upperclass nicht preisen, sondern begraben, wie Zadie Smith im Vorwort zu der Romansammlung schreibt.

Die Zustände in der Familie wie der Konnex der Freunde und Bekannten sind bloß auf dem Papier intakt. Kälte und Gewalt herrschen hinter der Fassade. Die Geselligkeit jenseits der familiären, aber innerhalb der Klassenbande spielt sich ab im Modus dauersarkastischer Konversation bar jeder Offenheit, Verlässlichkeit und Ehrlichkeit, dafür als Endlosschleife gegenseitiger Lästerei, Gehässigkeit und Verachtung. Zwischenmenschlichen Beziehungen finden sich ersetzt durch Party- und Cocktailblöken - alle gieren nach Vergnügen und fangen Verdruss.

Patrick ist das Produkt einer Vergewaltigung seiner Mutter durch seinen Vater, einen zynischen Snob und Arzt, der auf einer Herren-Safari kurzerhand einen verletzten Jagdgefährten erschießt, weil ihn dessen Jammern nervt. Bereits als Kleinkind wird Patrick vom Vater körperlich und seelisch auf Härte gedrillt und als Fünfjähriger erstmals sexuell missbraucht, während sich die hilflose Mutter volltrunken ab- und hingebungsvoll ihrer Beschäftigung zur Rettung der Welt zuwendet, unterbrochen von zahlreichen Workshops zur »Bewusstseinserweiterung und Persönlichkeitsentfaltung«. Nützliches Handeln gibt es in keinem der fünf St-Aubyn-Romane, stattdessen unbegrenztes Räsonieren, gebettet in hochprozentiges Dolcefarniente, bei dem Essen, Trinken und Lästern alle Kraft verbrauchen.

Patrick, materiell verwöhnt, emotional verhöhnt, landet früh bei den Drogen. Das vergiftet seine Jugend, wie der sensible junge Mann mit selbstzerrüttender Ironie und zusätzlich niederschmetternd wahrnimmt. Als er nach New York fliegt, in einem Holzkästchen die Asche des verstorbenen Vaters abholt und »mit seinem Vater im Arm« durch die Straßen läuft, wird ihm bewusst, »dass er das erste Mal in seinem Leben länger als zehn Minuten mit seinem Vater allein gewesen war, ohne vergewaltigt, geschlagen oder beleidigt worden zu sein«. Solcherart ist Patricks Hellsichtigkeit in dieser Phase, da er nur selten aus dem Drogenrausch auftaucht. Bald registriert er, dass seine Jugend vorbei war, »ohne dass er gereift wäre, es sei denn, man betrachtete die Neigung zu Traurigkeit und Erschöpfung, die sich vor den Hass und den Wahnsinn geschoben hatten, als Zeichen von Reife. Das Gefühl, vor einer Unzahl von Alternativen und Abzweigungen zu stehen, war der Trostlosigkeit eines Menschen gewichen, der am Kai die lange Liste der verpassten Schiffe studiert.«

Dass der vierte Roman, »Muttermilch«, der mit Abstand beste der fünf Bände ist, erklärt sich damit, dass in ihm neben der Tristesse aus raffiniert kommentiertem Niedergang, aus Drogenkonsum und wiederkehrender Todessehnsucht nun eine hochzerbrechliche Hoffnung auftaucht. Patrick, Anfang vierzig, ist Vater zweier Söhne und sieht am Ende des Tunnels manchmal helleres Licht als das vertraute Höllenschwarz. Dieser Schimmer hilft dem Leser. Denn wiewohl Text und Dialog bei St Aubyn glanzvoll und mit dem Höllenwitz Oscar Wildes daherkommen, sind mehrere Bücher in fast ausschließlicher Dunkelheit doch mehr, als man sich gewöhnlich wünscht.

Der Autor, dessen Lebensgeschichte in der Figur des Patrick nah an der Wirklichkeit angelegt ist, erklärte mehrfach, er habe die fünf Melrose-Romane in emotionaler Not begonnen. Erst durch das Wissen um die Leserschaft, die sie fanden, habe er selbst in einen Prozess der Befreiung einmünden können. Darüber zu schreiben, sei ihm überhaupt erst nach dem Tod des Vaters möglich gewesen: »Solange er lebte, waren all meine Kräfte gebunden in dem Krieg mit dieser realen Person. Ich hatte das Glück, dass mein Vater starb, als ich 25 war.«

Edward St Aubyn: Melrose. Fünf Romane. Aus dem Englischen von Ingo Herzke, Frank Wegner, Dirk van Gunsteren und Sabine Hübner. Piper Verlag. 880 S., geb., 39 €.

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