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»Das Imperium vermisst sich selbst«

Erika Fatland auf Reisen durch »Sowjetistan«

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

»Alles aus Marmor«, sagte der alte Professor und senkte die Stimme. »Sie können sich nicht vorstellen, was für ein Reichtum das dort ist. Kommt vom Erdöl. Strom, Gas, alles für die Bevölkerung umsonst. Aber es ist ein Leben wie im Mittelalter. Alles reglementiert. Da wird kein wirkliches Wissen mehr erworben an der Universität. Ich kann nicht mehr zurück.« - Während eines Kongresses über Tschingis Aitmatow und die Turkvölker in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek hatten wir oft miteinander gesprochen, doch erst im Flugzeug Richtung Moskau offenbarte er, was ihm im Herzen brannte. Es erstaunte mich. »Ich war noch nie in Turkmenistan«, sagte ich. - »Da werden Sie auch nicht hinkommen. Das Land ist für Ausländer praktisch geschlossen, wie Usbekistan auch.«

Erika Fatland, 1983 in Norwegen geboren, hat es geschafft, für alle fünf mittelasiatischen Staaten Visa zu bekommen. Sie gab sich als Studentin aus; als Journalistin hätte man ihr womöglich, zumindest in Turkmenistan und Usbekistan, die Einreise verwehrt. Aber überall hat sie sich frei über weite Gebiete bewegen können, begleitet von diversen Reiseführern - nun ja, zu ihrer Sicherheit.

Sie kam mit besten Voraussetzungen: Nicht nur, dass sie acht Sprachen beherrscht, als Master in Sozialanthropologie verfügt sie über ein profundes Wissen, was die Geschichte dieser Länder betrifft, und sie lässt uns im Buch auch daran teilhaben. Vor allem aber ist sie in unvoreingenommener, teilnehmender Beobachtung von fremder Lebenswirklichkeit geschult, anders als die meisten Touristen, die im Erkunden des Fremden vor allem das Eigene herausstreichen, oder Journalisten gar, die nicht selten mit zuspitzende Wertungen Eindruck zu machen hoffen.

Eine junge blonde Frau mit offenem Lächeln - sie wollte Realität erkunden, um sie möglichst genau zu beschreiben. Das Buch erscheint in zehn Ländern und wurde sofort mit dem norwegischen Buchhandelspreis ausgezeichnet.

Das war keine Mittelasientour wie zu Intourist-Zeiten. Sehenswürdigkeiten durften natürlich nicht fehlen, aber vor allem kam es auf die Beschreibung des Lebens in entlegenen Regionen an. Mit der Zähigkeit einer Forschungsreisenden: Welche Abenteuer hat die Autorin da auf sich genommen. Interessant liest es sich, auch wenn es für sie selber nicht immer erfreulich war. Sie war ja nicht nur in der turkmenischen Marmorstadt Aschgabat, sondern auch in der Wüste Karakum. 36 Stunden reiste sie in einem überhitzten Zug von der kasachischen Grenze bis zum ausgetrockneten Aralsee, ins Kernwaffentestgelände in die einst »geschlossene Stadt« Schagon - »niemand wird alt hier«, bekommt sie zu hören. In Tadshikistan fuhr sie durch den »Tunnel des Todes« ins Jaghnob-Tal, wo einst gläubige Zoroastrier Zuflucht vor den arabischen Eroberern suchten. Sie war erstaunt, dass niemand dort von der alten Religion etwas hören wollte. Moslems seien sie. Bei den Jaghnoben konnte sie sogar an einer Hochzeit teilnehmen.

Das ist überhaupt erstaunlich: wie aufgeschlossen und freundlich ihr die Menschen meist begegnen. Hoch oben auf dem Pamir-Plateau, wo es bis minus 53 Grad kalt wird, gerät sie in Gesellschaft von Ismailiten und erlebt eine weitere Hochzeit. In Kirgistan dann gewinnt sie das Vertrauen von mehreren Frauen und erfährt von »Ala Kuchuu« - packen und losrennen -, dem zu sowjetischen Zeiten streng verbotenen Brauch, sich eine Braut zu stehlen. Heute würden rund ein Drittel aller Ehen in Kirgistan noch so geschlossen. Dabei ist Kirgistan das Land in Mittelasien, das noch am demokratischsten regiert wird, mit Regierungspartei und Opposition und einem gewählten Präsidenten. Aber gerade dort hat es nach dem Zerfall der Sowjetunion blutige Kämpfe zwischen Kirgisen und Usbeken gegeben. Die Furcht vor islamistischen Gruppierungen geht mehr oder weniger in allen fünf Staaten um.

Warum viele Menschen die Unabhängigkeit ihrer Länder gar nicht so sehr als Errungenschaft begreifen, warum sogar Jüngere der Sowjetunion nachtrauern, das war die Frage, auf die Erika Fatland Antworten suchte. »Das Imperium vermisst sich selbst«, heißt es an einer Stelle. Was vermisst wird, mag persönlich unterschiedlich sein: soziale Sicherheit, Gleichheit, Gerechtigkeit wenigstens als Idee, während die Korruption jetzt offen Triumphe feiert, ein auf Fortschritt gerichtetes Gesellschaftsziel.

»In siebzig Jahren sowjetischer Herrschaft trat Zentralasien vom Mittelalter ins 20. Jahrhundert«, resümiert Erika Fatland und führt aus, mit welch gewaltigen Umwälzungen dieser »zivilisatorische Sprung« verbunden war. Doch auch wenn die Polygamie aufgehoben wurde, Mädchen zur Schule gehen konnten, überhaupt Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Bibliotheken, Opernhäuser erst gebaut wurden, habe doch die alte Klan-Kultur überlebt. Ein Rückfall »in die Zeiten der Emirate und Khanate«? Mit Ausnahme Kirgistans. Aber auch dort schwelen wie überall ethnische Konflikte. Was wird sein, wenn die »ewigen Präsidenten« sterben? Sicher ist, dass die Verbindung zu Russland für diese Republiken lebenswichtig bleibt.

Erika Fatland: Sowjetistan. Eine Reise durch Turkmenistan, Kasachstan, Tadschikistan, Kirgistan und Usbekistan. Aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg. Mit Fotografien der Autorin. Suhrkamp. 511 S., br., 16,95 €.

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