Spitzel und Spudok

Das Observieren von Linken hat in Göttingen eine lange Tradition

  • Reimar Paul
  • Lesedauer: 4 Min.

Fünf Ordner, prall gefüllt mit Akten und versehen mit der Aufschrift »Limo« (»Linksmotiviert«), standen mindestens bis 2015 in einem Büroraum des Staatsschutzkommissariates der Göttinger Polizei. Ohne Rechtsgrundlage hatten die Beamten Material über Göttinger Linke zusammengetragen. Inzwischen wurden die Unterlagen vernichtet. Strafrechtliche Ermittlungen soll es deshalb aber nicht geben, teilte die Staatsanwaltschaft am Freitag mit.

Das Ausspähen von linken und alternativen Szenen hat in der Universitätsstadt eine unrühmliche Tradition. Schon Ende der 1970er Jahre schleuste das niedersächsische Landeskriminalamt (LKA) zwei Agenten in den Göttinger Arbeitskreis gegen Atomenergie ein. Und 1982 machte die »Alternative Grüne Initiativen Liste« (AGIL), eine Vorläuferorganisation der Grünen, bekannt, dass geheime Polizeieinheiten in der Stadt ihr Unwesen trieben, Linke verfolgten und im sogenannten Spudok-System illegal Dateien anlegten.

»Wicky« und »Rudi«, so die Tarnnamen der LKA-Spitzel, schlichen sich im Frühjahr 1978 in die Anti-AKW-Initiative ein. Im Jahr davor hatte es die Demonstrationen in Brokdorf, Grohnde und Kalkar gegeben. Die Anti-AKW-Bewegung war zur Massenbewegung geworden, der Göttinger Arbeitskreis war damals zahlenmäßig eine der größten Gruppen und verfügte bundesweit über Einfluss.

Die beiden LKA-Beamten kamen aus Hannover - in den dortigen Anti-Atom-Initiativen sei »nichts los«, da werde »zu viel geredet und zu wenig gehandelt«. Daher fuhren sie regelmäßig zu den Arbeitskreistreffen nach Göttingen. Sie betreuten den Infostand auf dem Marktplatz, fuhren mit Göttinger Aktivisten zu Seminaren und sogar in den Urlaub. Dass »Wicky« viel filmte und fotografierte, erregte zunächst keinen Verdacht: Er erklärte es damit, dass er früher mal eine Fotografenlehre gemacht habe.

Zum Fund einer Tränengasgranate in seinem Auto sagte »Wicky« , er wolle sie bei der nächsten Demo loswerden. Bei einer Diskussion über den Widerstand in Gorleben schlug er vor, eine Rauchbombe in eine Trafostation zu werfen, das gäbe einen »schönen Aufruhr«.

Enttarnt wurden die Spitzel durch Hinweise ehemaliger Schulfreunde: »Wickys« und »Rudis« angeblicher Wohnsitz in Hannover war früher eine Adresse des Drogendezernats der Polizei. Tatsächlich wohnte »Wicky«, der eigentlich Marc Baumann heißt, bei seinen Eltern in einem Vorort der Landeshauptstadt. Er konnte drei Dienstwagen nutzen, zwei VW-Käfer und eine grüne »Ente« mit Anti-Atomkraft-Aufkleber.

Der damalige LKA-Chef Waldemar Burghard ließ eine Pressemitteilung verfassen: »Interessiert hat uns allein ein harter Kern des Arbeitskreises, der sog. Koordinationsausschuß (KOA). Dieser KOA muß als Schwerpunkt der auch über Göttingen hinauswirkenden militanten Kräfte angesehen werden. Hier werden Aktionen geplant, bei denen - und daher kommt ihre evidente Gefährlichkeit - vor allem auch die Anwendung massiver Gewalt durchaus ins Kalkül gezogen wird.«

1982 veröffentlichten zunächst ein Anzeigenblättchen und dann die AGIL Mitschnitte aus dem Polizeifunk: So wurde bekannt, dass in Göttingen geheime Polizeieinheiten operierten - ohne öffentliche Kontrolle und offenbar auch ohne ausreichende rechtliche Grundlage. Sie nannten sich »Aufklärungs- und Festnahmekommandos«, rund 50 Beamte gehörten ihnen an. Ihr Auftrag: ständiges Beschatten, Provozieren und wenn möglich Festnehmen einzelner Linker oder kleiner Gruppen. Jugendzentren und Kneipen waren bevorzugte Observierungsziele. Gäste, die mit dem Auto nach Hause fuhren, wurden angehalten, ihre Personalien überprüft. Die Daten wurden an einen Computer in Hannover übermittelt, auf dem sich das Spuren- und Dokumentationssystem (Spudok) befand. Die Liste enthielt Hunderte Namen, darunter auch die des späteren Umweltministers Jürgen Trittin und einer querschnittsgelähmten Ehrenbürgerin der Stadt.

Im Funk unterhielten sich die Beamten zum Beispiel so: »X und Anhang gehen hier durch die Stadt. Wir wollen die ein bisschen beschatten. Aber so, dass wir denen auf den Hacken herumfahren … Der X wird schon nervös.« »Ja, wollt ihr sie jetzt mal anhalten? Einsacken …?« »Na, dann wollen wir sie mal einsammeln … Wir stoppen sie … Kommt ran.«

Die »Spudok«-Dateien seien vernichtet worden, versicherte das niedersächsische Innenministerium 1985. Waren sie aber nicht. Nach einem Brandanschlag auf das Göttinger Arbeitsamt tauchte die alte Aufstellung politischer Aktivisten wieder auf - mit denselben Schreibfehlern.

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