Bitte einmal Türke mit Schnauzbart

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

Woran erkennt man, dass um einen herum Heimat ist? Nun, gemeinhin lässt sich Heimat an der Qualität der Backwaren sowie der Fleisch- und Wurstprodukte erkennen. Vor vielen Jahren lernte ich während einer Zugfahrt von Frankfurt am Main nach Berlin eine Frau aus Thüringen kennen, die seit ihrer Heirat in Mecklenburg-Vorpommern lebte. Die Dame führte eine große Kühlbox mit sich. Darin hatte sie, wie sie mir auf Nachfrage erklärte, eine Auswahl von Wurstwaren aus Thüringen eingepackt. Dort, wo sie jetzt schon sein mehr als 30 Jahren wohne, gebe es keine gute Wurst, erläuterte sie. »Die Wurstgrenze«, dozierte die Gute, »verläuft von Ost nach West etwa auf der Höhe von Kassel; nördlich davon ist die Wurst ungenießbar«. Ich ergänzte aus leidvoller Berlin-Erfahrung: »Ja, und Brot können sie auch kein gescheites backen. Das jedenfalls haben Thüringer und Franken gemein: gutes Brot und gute Wurst!«

Brot und Wurst ist aber nicht das einzige Merkmal, woran man Heimat erkennt. Man muss unbedingt noch den Schnauzbart erwähnen, und zwar in der Form, wie ihn zu meiner Kindheit und Jugendzeit türkische Männer getragen haben. Also nicht so ein dünner Flaum oder ein akkurat auf beiden Seiten mit rechtem Winkel gestutztes Bärtchen, auch nicht eine Wucherung, die seitlich über die Mundwinkel herunterreicht, sondern eine anständige männliche Rotzbremse, die hält (!), was sie verspricht. Deren Träger radebrechten ein schwer verständliches Deutsch und trugen in der Regel braune Stoffhosen sowie gemusterte Polyacrylhemden. Sie hießen Mustafa oder Ali und arbeiteten mit meinem Onkel auf dem Bau oder mit dem Vater meines besten Kindheitsfreundes im Schichtdienst im Chemiewerk.

Doch die Türken von heute sind auch nicht mehr das, was ihre Väter einst waren. Die Türken von heute betreiben in Berlin Bäckereien, die sie Familienbetrieb nennen, die aber »Bäckerei 2000« oder ähnlich heißen und in denen die Brötchen vom Großbäcker halbfertig geliefert werden und im Laden nur noch fünf Minuten aufgebacken werden müssen. Die modernen Türken in Deutschland heißen meisten nicht mehr Mustafa oder Ali, sie sprechen akzentfrei Deutsch und sind - zumindest in Berlin - im Dienstleistungsgewerbe oft genauso unfreundlich, wie die Ur-Berliner, also die vor ihnen eingewanderten Hugenotten, Italiener, Griechen, Franken, Sachsen, Schwaben, Thüringer, Russen und Polen. Kurzum, sie haben sich nicht nur integriert, sie haben sich assimiliert.

Das ist nicht schlimm, das ist halt so. Doch manchmal erlebt man dann doch noch ein Deja vu. Vorgestern suchte ich eine dieser Aufbackfilialen in einem benachbarten Stadtteil auf. Dort stand er, hinter dem Verkaufstresen: Das Mensch gewordene Heimatgefühl. Ein Schnauzbart, dessen Träger unverkennbar türkischer Herkunft war und der mich freundlich anlächelte. Dann fragte er mich in akzentfreiem Deutsch nach meinem Begehr - und flugs war es wieder weg, das Heimatgefühl.

P.S. Die Brötchen waren ganz in Ordnung.

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