Miriam Salganik (Moskau, 1955)
Unbekannte Bekannte
Sie nannte sich Mariam, hieß eigentlich Miriam, ihre Herkunft wollte sie verbergen. Seit jüdischen Ärzten zwei Jahre zuvor der Tod Stalins angelastet worden war, hatte sie viel Antijüdisches erfahren. Sie war zierlich, mit dunklem Kraushaar, war von schlichtem Äußeren, ihre Ringelsöckchen und Halbschuhe mit flachen Absätzen verliehen ihr etwas Schulmädchenhaftes. Dabei war sie schon etliche Jahre mit einem Japanologen verheiratet. Ihre Teilzeitarbeit als Dolmetscherin für den Moskauer Schriftstellerverband tat sie gewissenhaft, war freundlich und so informativ, wie es die Umstände erlaubten.
Stets war sie zur Stelle: bei meinen Museumsbesuchen, Besuchen der Landwirtschaftsausstellung, sie dolmetschte gewissenhaft, wenn Journalisten mich interviewten, auch bei Verlagsbesprechungen, und sie fehlte bei keinem der Theater-, Opern- und Ballettabende, die mir geboten wurden. Pünktlich tauchte sie im »Hotel Moskau« mit den Eintrittskarten auf und begleitete mich anschließend ins Bolschoi Theater. »Ich tu’s gern«, sagte sie. Was dort zu erleben war, schien für sie so anregend wie für mich. Wäre ich auch hin und wieder gern allein gegangen, sie blieb präsent.
Lediglich an meinem letzten Abend in Moskau händigte sie mir beide Karten fürs Ballett »Romeo und Julia« aus und entschuldigte sich - sie wolle bitte ihren Mann verabschieden, der nach Japan delegiert worden sei und lange nicht wiederkäme. Am folgenden Tag wurde mir für die Reise nach Leningrad ein junger Mann namens Alexander Semjunow zugeteilt, weil (so seine Erklärung) notfalls er und ich ein Doppelzimmer belegen könnten, was mit einer weiblichen Begleitperson ja nicht ginge. Das leuchtete mir ein, bis irgendwann Semjunow bemerkte, Miriam Salganik sei wegen Pflichtverletzung entlassen worden. »Wie das?« »Nun«, sagte Semjunow, »war sie an Ihrem letzten Moskauer Abend dabei oder nicht?« Ahnend, wohin das führen könnte, sagte ich: »Selbstverständlich war sie dabei«. Da sei er anders informiert, meinte er.
Nach Moskau zurückgekehrt, sprach ich Boris Polewoi, den Vorsitzenden des Schriftstellerverbandes, auf Mariam Salganik an. »Wer sagt denn, dass sie entlassen wurde?«, fragte Polewoi. Er wirkte beherrscht, gab sich keine Blöße. Ich aber beharrte weiter, sagte ihm, ich schätze ihn sehr wegen seines Romans »Der wahre Mensch«. Und dass er selbst gewiss ein solcher Mensch wäre, und darum Verständnis für mein Anliegen haben würde. »Geben Sie Frau Salganik eine zweite Chance.« Polewoi sah an mir vorbei. Er zögerte eine Weile, ehe er zum Telefon griff. Was er dann anordnete, erschloss sich mir erst, als am gleichen Abend Miriam Salganik im Hotel erschien und mir mit Tränen in den Augen zuflüsterte: »Das vergesse ich Ihnen nie.«
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