Ralph Gibson (Melbourne, 1952)

Unbekannte Bekannte

  • Walter Kaufmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Zerknitterter Anzug, zerknitterter Hemdkragen und unterm Kragen immer dieser fadenscheinige Schlips - Ralph Gibson, vierzig Jahre alt oder fünfzig, sein Alter ist schwer zu bestimmen: forscher Schritt, schlanker Wuchs, schütteres Haar, das ihm bei jedem Windhauch um die Stirn bläst.

Er war Geschichtsprofessor gewesen, Sohn aus einer Dynastie alteingesessener Melbourner Akademiker, die rund um die Universität zwischen Parkville und Carlton ihr Zuhause hatten. Als unsere Wege sich kreuzten, war er schon seit Jahren ein hauptamtlicher Funktionär mit maßgeblicher Verantwortung in der Leitung der Kommunistischen Partei, Theoretiker, Redner auf Foren und an Sonntagnachmittagen auf der Yarra Bank, einer Wiese am Fluss, wo die Arbeiter zusammenkamen und er mit der Zeit zu einer regelrechten Institution geworden war - kein Tribun, keiner von jenen robusten australischen Gewerkschaftsführern, sondern schlicht ein Intellektueller aus dem Bürgertum, der getreulich der Arbeitersache diente.

Für jedermann, das merkte auch ich sehr bald, hatte er Zeit und Ohr und kam dabei meiner Vorstellung von Lenin nahe. In seiner Erscheinung, in seiner Haltung waren Ähnlichkeiten mit dem Russen zu erkennen. Er wirkte wie aus dem gleichen Holz geschnitzt. Unterm Arm trug er eine Aktentasche, die so abgewetzt war wie sein Anzug und die er auf dem Podium am Rednerpult vor sich hinzulegen pflegte, um notfalls darin nach einer Notiz oder Pressemeldung suchen zu können. Unterbrechungen sahen ihm die Arbeiter geduldig nach - lass ihn, was der auskramt, hat Sinn. Da ist Verlass drauf …

Verlass war auf Ralph Gibson nicht bloß bei Recherchen - wer, wenn nicht er, hatte sich die Schuhsohlen durchgelaufen, um für die jüngst gegründete Australian Book Society, den australischen Arbeiter-Buchklub, Spenden einzutreiben? Es sprach für ihn, dass ihm das sogar unter Geschäftsleuten gelang, die aus Litauen und Polen eingewandert waren und in seinem Wohnbezirk Carlton mit Kleidern und Schuhen handelten, mit Lebensmitteln und Gebrauchtwaren. Kaum einer von denen beherrschte die Landessprache; mit australischen Büchern konnten sie also allesamt wenig im Sinn haben. Sie gaben Gibson Geld, weil sie ihn für redlich hielten und seinen Ratschlägen vertrauten, und sie lächelten bloß, wenn er ihnen versicherte, dass auch Bücher Lebensmittel seien - food for thought.

Seine Aktentasche mit den Broschüren des Buchklubs brauchte er nicht erst zu öffnen: »Schon gut, Mr Gibson - lassen Sie nur.« Ein Menschenfreund, der Mann, sagten sie sich - für wen hatte der sich nicht schon eingesetzt! Warum also nicht auch für Schreiber und Bücher?

Die größte Spende trieb Ralph Gibson bei einem Jacov Meir aus dem polnischen Czerniewice ein, Hersteller von Damenblusen und Zulieferer von Boutiquen, der sich Jake Myer nannte und eine Schwäche für Literatur hatte. »Sie sammeln für Schreiber«, hatte der Mann ihn gefragt, »auch jiddische?« - »Das nicht. Aber ein jüdischer ist dabei.« Und Ralph Gibson hatte von mir erzählt - meiner Flucht vor den Nazis, dem Schicksal meiner in Deutschland zurückgebliebenen Eltern und davon, dass ich einen Roman aus jener finsteren Zeit geschrieben hatte.

»Jüdisch, aber nicht in Jiddisch«, hatte Jake Myer gefolgert und bedauernd den Kopf gewiegt. Auch Ralph Gibson hatte den Kopf gewiegt und den anderen nicht weiter bedrängt. »Reden ist Silber, Schweigen ist Gold«, hatte Jake Myer bemerkt. »Sie reden mir nichts ein - und das ist Gold wert.« Doch dass die Goldmünze, die er dann aus der Westentasche zog und Ralph Gibson zusteckte, 120 Pfund bringen würde, was damals ein kleines Vermögen war, hatten sich weder Ralph Gibson noch sonst wer vom Buchklub träumen lassen.

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