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Vom Brutto­national­glück im Himalaya

Die Doku »Agent of Happiness« begleitet zwei Beauftrage der Bhutaner Regierung, die die Menschen nach ihrem Glücks­empfinden befragen

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.
Zwei reisende Revisoren des Glücks
Zwei reisende Revisoren des Glücks

Glück ist der erfüllte Moment, das Gleichgewicht zwischen innen und außen. Ein flüchtiger Moment meist nur der Harmonie des Einzelnen mit der Welt. Ein seltener Moment gesteigerter positiver Selbstwahrnehmung. Dem Glück also sollte man besser nicht hinterherjagen, denn schon dem Versuch, es mit entschlossenem Griff in Besitz zu bringen, weiß es sich zu entziehen.

Sollte man überhaupt dem Glück einen so entscheidenden Platz im Leben einräumen? Glück ist doch schon, wenn einem kein Unglück zustößt, man immer noch – irgendwie – weiterlebt. Oder sollte man Glück mit Zufriedenheit übersetzen? Aber zufriedene Menschen sind auch wieder unerträglich, schon weil es von der Zufriedenheit zur Selbstgerechtigkeit nicht weit ist. Also, vergiss das Glück und tue, was zu tun ist? Das scheint mir auf jeden Fall ein besserer Ansatz zu vermeiden, dass man schließlich mit sich ganz und gar unzufrieden wird. Wer nur dasitzt und auf das Glück wartet, wird es garantiert versäumen.

Da scheint es interessant, dass in Bhutan, im Himalaya zwischen Indien und Tibet gelegen, das bis in die 90er Jahre vollkommen von der Welt abgeschnitten war (als letztes Land keinen Fernsehempfang hatte), das Glück oberstes Ziel der Politik des Königshauses ist. Staatlich verordnetes Glück? Das klingt verdächtig nach einer Ideologie, der man nicht entfliehen kann. Aber in Bhutan meint man es ernst damit, stellt dem Bruttoinlandsprodukt das »Bruttonationalglück« entgegen – und um dieses zu ermitteln, werden jedes Jahr Dutzende Beauftrage entsandt, noch in den entlegensten Gebieten Menschen anhand eines Fragebogens zu ihrer Lebenssituation zu befragen. Aus den Antworten wird dann der landesweite Glücksindex ermittelt.

Klingt fast schon nach Sekte, aber der Buddhismus ist derartigen Nachforschungen gegenüber traditionell offen. Schon in einem landesweiten Rechtskodex in Bhutan aus dem Jahre 1629 heißt es: »Wenn die Regierung kein Glück für ihr Volk schaffen kann, dann gibt es keinen Grund für die Existenz der Regierung.« Klingt drastisch – und in diesem Sinne begleitet das Regie-Duo Arun Bhattarai und Dorottya Zurbó zwei reisende Revisoren des Glücks, die mit ihrem Kleinwagen und ihren Fragebögen kreuz und quer durchs Land fahren. Wir sehen kleine Dörfer, Klöster und Berge, eine Bilderbuchlandschaft.

Da die Menschen offen über ihr Leben erzählen, das – wie zu erwarten war – durchaus schwer und nicht immer nur freudvoll ist, erfahren wir in den folgenden 90 Minuten erstaunlich viel über das Leben in dieser Region des Himalaya, wo man sich einerseits dem modernen Leben geöffnet hat und andererseits die Tradition hochhält.

Kaum eine Million Einwohner leben auf einem Gebiet, das ungefähr so groß ist wie das der Schweiz. Aber es gibt auch eine nepalesische Minderheit in Bhutan, die keine staatsbürgerlichen Rechte besitzt, keinen Pass bekommt und auch keine feste Anstellung. Das ist schon eine schwerwiegende Glücksbremse in der konstitutionellen Monarchie Bhutan.

Wo gibt es das sonst, einen Staat im 21. Jahrhundert, der das Glück seiner Bürger in den Mittelpunkt der Politik stellt?

Amber, einer der »Glücksagenten«, die von Tür zur Tür ziehen, ist der Hauptakteur dieses Films – der erste aus der nepalesischen Minderheit, der in einem Film aus Bhutan eine so herausgehobene Stellung einnimmt. Er lebt allein mit seiner pflegebedürftigen Mutter und hofft darauf, einmal heiraten zu können – aber ohne die Staatsbürgerschaft Bhutans zu erhalten, hat er keine Chance.

Das gibt diesem sehenswerten Roadmovie auf der Suche nach dem Glück einen melancholischen Unterton, der wohltuend ist, denn er zeigt, dass es auch hier ein Recht auf Traurigkeit gibt. Wir begegnen überhaupt vielen Menschen, die darum kämpfen, ihre Trauer zu überwinden. Da ist Tshering, dessen Frau gestorben ist und der – in buddhistischer Tradition – darauf wartet, dass sie wiedergeboren wird. Jetzt hält er ein Baby im Arm, seinen Enkel, und ist glücklich, denn er ist davon überzeugt, dass ihm so seine Frau wiedergeboren wurde.

Sogar einem Transgender-Performer in einem Vergnügungsviertel begegnen wir. Dechen fühlt sich fremd in seinem Körper, träumt davon, einmal ein schönes junges Mädchen zu sein. Seine Mutter ist krebskrank und sein einziger Halt. »Egal, was du bist, du bist ein guter Mensch und schön sowieso«, das sagt ihm seine lebenskluge Mutter, die ihn bald verlassen wird. Und Amber, der Glücksagent, arbeitet auch hier seinen Fragebogen ab: Ob er einen Esel, einen Traktor, Schafe oder Hühner besitze? Nein, nichts davon, aber ein Handy und einen Fernseher hat er.

Auch ein junges Mädchen wird befragt, das seine alkoholkranke Mutter betreut. Einen glücklichen Tag habe es zumindest gegeben, sagt es, der Tag, an dem die Mutter einmal nicht getrunken habe. So geht das immer weiter, jene gefährlich auf Dauerglück trainierten Grimassen sehen wir hier nirgends, nur Menschen zwischen Pflichten und Sehnsüchten, die immer warten müssen. Der Film findet jene Zwischentöne, die von einem Leben im Himalaya zeugen, das ebenso schwer wie schön ist. Biografien zwischen Selbstbestimmungswillen und Anpassungszwängen, wie überall, aber hier auf besondere Weise. Einer fragt verwundert in die Kamera: »Warum wurde etwas so Trauriges wie ich in einem so glücklichen Land geboren?«

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Immerhin, da das Glück regierungsamtlich zum zentralen Thema Bhutans gemacht wurde, fragen sich nun all die Untertanen des aufgeklärten Königs, ob sie auch wirklich glücklich sind. Wie ich mich fühle, das ist hier keine Nebensache, das geht alle etwas an. Darum ist in Bhutan ein richtiger Glücksdiskurs entstanden. Man debattiert darüber, was noch immer fehlt zu einem glücklichen Dasein. Ich sollte glücklich sein, seltsamerweise bin ich es nicht oder nur sehr selten! So beginnt man hier über das eigene Dasein zu philosophieren.

Wo gibt es das sonst, einen Staat im 21. Jahrhundert, der das Glück seiner Bürger in den Mittelpunkt der Politik stellt? Und schaut man sich die »vier Säulen des Bruttonationalglücks« von Bhutan einmal an, dann bedauert man durchaus, dass dies bei uns kein relevantes Thema für die Regierenden ist: 1. Förderung einer sozial gerechten Gesellschafts- und Wirtschaftsentwicklung, 2. Bewahrung kultureller Werte, 3. Schutz der Umwelt, 4. gute Regierungs- und Verwaltungsstrukturen. Das klingt doch wie das Programm einer sozialistischen Partei, die man gern wählen würde.

Der Glücksindex von Bhutan ist nach der neuesten Befragung offiziell von 90 auf 93 gestiegen, was als gute Nachricht gehandelt wird. Egal, ob das nun stimmt oder nicht: Dass die Menschen in Bhutan das Thema ihres individuellen Glücks so ernst nehmen sollen (und wollen), ist doch tatsächlich eine gute Nachricht.

»Agent of Happiness«, Bhutan 2024. Regie: Arun Bhattarai, Dorottya Zurbó. 94 Min. Kinostart: 3. Juli.

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