90 000 Rohingya fliehen vor Kämpfen

Nach Angriffen von Rebellen rächt sich das myanmarische Militär gnadenlos und vertreibt Zehntausende

  • Daniel Kestenholz, Bangkok
  • Lesedauer: 4 Min.

Grenzwächter versuchen die Menschen zurückzudrängen, doch es sind zu viele. Tausende Rohingya erreichen nach tagelangen beschwerlichen Märschen Bangladesch. Abseits der Weltschlagzeilen ereignet sich in Myanmar eine humanitäre Katastrophe, die allein in den vergangenen Tagen 400 Menschenleben gefordert hat. Rebellen der muslimischen Rohingya-Minorität haben Ende August Dutzende koordinierte Attacken auf Militärposten verübt. Als Vergeltung steckten Regierungstruppen ganze Dörfer in Brand, töteten Hunderte Menschen und trieben ganze Landstriche in die Flucht.

So wie Sham Shu Hoque. Der 34-Jährige erreichte Bangladesch zusammen mit 17 Familienmitgliedern nach einem einwöchigen Marsch unter Monsunschwerem Himmel. Truppen hätten sein Dorf angegriffen und »auf Bewohner geschossen, auch mit Panzerfäusten«. Soldaten ließen die Familie fliehen und sagten ihnen, nie wieder zurückzukehren.

Myanmars Militärchef schrieb auf Facebook, 29 der Getöteten seien Zivilpersonen und 370 »Terroristen«. Von mehr als 90 bewaffneten Kampfhandlungen war die Rede. Fast 90 000 Menschen sind in der vergangenen Woche nach Bangladesch geflohen, wo es an allem mangelt. 20 000 weitere sollen an der Grenze auf Einlass warten, lässt die UN verlauten. In Camps in Bangladesch leben bereits etwa 400 000 Rohingya-Flüchtlinge. Laut Vivian Tan, der regionalen Sprecherin des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, sind die »Camps zum Bersten voll und die Zahlen schwellen rasch an«. Jetzt schlug auch das UNO-Welternährungsprogramm WFP Alarm, dass seine Hilfe im betroffenen Rakhine-Bundesstaat in Myanmar einstellen muss; eine halbe Million Menschen sind von Hunger bedroht.

Die Tragödie wirft ein Schlaglicht auf Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi, die lange Jahre unter Hausarrest stand und nach Myanmars Übergang zu Wahlen zur defacto Regierungsführerin aufstieg. Als sie noch unter Hausarrest stand, hatten die herrschende Junta Gesandten der Vereinten Nationen Besuche bei Suu Kyi verboten. Jetzt ist es Suu Kyis Regierung, die UNO-Vertretern Besuche im Rakhine-Krisengebiet verbietet.

Die Demokratie- und Friedensführerin war lange Jahre selber eine Verfolgte. Jetzt weigert sie sich, für Verfolgte ihre Stimme zu erheben. Als Oppositionsführerin zur Ikone stilisiert, erweist sie sich an der Macht als eine Verlängerung der Generäle, die sie einst bekämpfte. Das mehrheitlich buddhistische Myanmar anerkennt die rund eine Million Rohingya nicht als ethnische Minderheit und verweigert ihnen die Staatsangehörigkeit und Bürgerrechte. Daran will offenbar auch Suu Kyi nichts ändern. In der internationalen Gemeinschaft herrscht Unverständnis über die menschenfeindliche Politik der einstmals Gefeierten. Der britische Außenminister Boris Johnson warnte Suu Kyi, die selber den britischen Pass besitzt, dass Myanmars Behandlung der muslimischen Rohingya den Ruf des Landes »beschmutzt«.

Das jüngste Aufflammen der Gewalt begann am 25. August, als mit Macheten und Gewehren bewaffnete Rebellen der selbst ernannten Arakan Rohingya Heilsarmee (ARSA) Militärstellungen attackierten. Truppen lancierten großflächige Vergeltungsaktionen und die Staatspresse meldete am Samstag, die »extremistischen bengalischen ARSA-Rebellen« hätten 2625 Häuser niedergebrannt. Was die Frage aufwirft, weshalb Rohingya-Rebellen ihre eigene Bevölkerung auslöschen wollen.

Neutralen Beobachtern ist der Zutritt zum Gebiet verwehrt, es ist schwierig, sich ein genaues Bild über diese »Politik der verbrannten Erde« zu verschaffen. In sozialen Medien kursierten mögliche Falschmeldungen mit Fotos, die Leichen zeigen. Die Fotos stammen offenbar von der Wirbelsturmkatastrophe Nargis im Mai 2008 oder von Schiffsunfällen. Beide Seiten verüben Gräueltaten. Erwiesen jedoch scheint, dass Rohingya schlimmere Opferzahlen leiden.

ARSA ist eine islamistische Widerstandsgruppe um Atullah Abu Amar Jununi, der in Pakistan geboren in Mekka aufwuchs und laut der Internationalen Krisengruppe ICG militärisches Training in Pakistan und möglicherweise Afghanistan erhalten haben soll. Finanziert von der Rohingya-Diaspora und Gebern in Saudi Arabien und dem Nahen Osten, haben Myanmars Regierungen die Bedingungen geschaffen, die zur Bildung der ARSA führten. Die Gruppe scheint keine jihadistischen Ziele zu verfolgen, verwendete in ihrem ersten Video aber arabische Schriftzüge, was Spekulationen nährte, dass Myanmars Muslimrebellen globalen Terroristengruppen angehören. Es ist unklar, welche Unterstützung ARSA in der eigenen Bevölkerung genießt. Berichten zufolge hat die Gruppe unlängst verdächtigte Informanten hingerichtet, um mit einer brutalen Kampagne Einfluss und Kontrolle zu stärken.

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