Boykott oder Nicht-Boykott, das ist hier die Frage

Yücel Özdemir über Erdoğans Aufruf zum Wahlboykott und einen Nachmittag in Köln-Mühlheim

  • Yücel Özdemir
  • Lesedauer: 4 Min.

Noch eine Woche bleiben bis zu den Bundestagswahlen. In Bezug auf türkeistämmige Wähler fragt sich die Öffentlichkeit vor allem, inwieweit wohl Recep Erdoğans Aufruf zum Wahlboykott hier auf fruchtbaren Boden fallen wird. Dabei besteht die Möglichkeit, dass der Appell eher das Gegenteil dessen bewirkt, was der türkische Präsident bezweckt hat.

Vergangene Woche konnte man dazu ein paar Beobachtungen bei einer Wahlkampfveranstaltung der Linkspartei im Köln-Mülheim machen, einem der Kölner Stadtteile mit dem höchsten Anteil an Einwanderern aus der Türkei. Unter den Teilnehmern waren nicht wenige Türkeistämmige. Die Föderation der Demokratischen Arbeitervereine (DİDF) forderte mit auf türkisch verfasstem Material an ihrem Stand dazu auf, sich an den Wahlen zu beteiligen - und für die Linkspartei zu stimmen. Einige der Türkeistämmigen, die zu dem Stand kamen, sagten: »Wir werden jetzt erst recht wählen.« Die Wahlbeteiligung unter den Erdoğan-Gegnern scheint eher noch zuzunehmen.

Yücel Özdemir

Yücel Özdemir wurde 1968 in der türkischen Stadt Varto geboren. Er lebt mit seiner Familie in Köln.

Neben seinem Mathematikstudium an der Universität Istanbul war Özdemir verantwortlicher Redakteur der linken Wochenzeitschrift "Gerçek" (Realität), der Vorläuferin der Tageszeitung "Evrensel". Nach der Veröffentlichung eines geheimen Militärprotokolls, in dem es um die Bespitzelung von Kurden, Aleviten und Linken ging, machte ihm die türkische Justiz den Prozess wegen „Landesverrats“. Er flüchtete im August 1993 nach Deutschland. Seit Jahren schreibt Özdemir für "Evrensel" Berichte und Kolumnen aus Deutschland. Er gehört zu den 50 Journalisten, die beim NSU-Prozess einen ständigen Beobachterplatz erhalten haben und teilt seinen Platz mit "neues deutschland".

Was aber werden die konservativen Türkeistämmigen tun, die Erdoğan zu beeinflussen versucht? Organisationen, die diese Wählerschichten ansprechen, forderten in den vergangenen Jahren stets dazu auf, wählen zu gehen. Statt dabei offen eine Partei zu unterstützen, empfahlen sie, die Entscheidung von bestimmten Kriterien abhängig zu machen. Wenn man liest, was diese Organisationen in diesem Jahr schreiben, ist das auch weiterhin ihre Haltung. In der Septemberausgabe ihres Magazins »Perspektive« fordert zum Beispiel die islamische Bewegung Milli Görüş (IGMG) zur Teilnahme an den Wahlen auf. Dieselbe Botschaft kam von DITIB- Vorstandsmitglied Hakan Aydın. »Wir werden unsere Gemeinschaft über verschiedene Kanäle dazu auffordern, sich an den Wahlen zu beteiligen. Es ist unser oberstes Ziel, zu erreichen, dass auch die Muslime Deutschlands im Parlament repräsentiert werden, wie sie es verdient haben«, so Aydın.

Trotz dieser Aussagen wurde aber bis jetzt keine Wahlaufforderung auf den Webseiten von IGMG und DITIB veröffentlicht. Und es sieht nicht danach aus, als würde dies noch passieren. Besonders DITIB, die direkt von Ankara aus geleitet wird, kann sich wohl nicht offen gegen Erdoğans Appell stellen.

Doch zurück zur Wahlkampfveranstaltung in Köln-Mühlheim. Die Linkspartei will dort wissen, inwiefern ihre Forderungen vom Publikum unterstützt werden. Dafür hat sie sie an ein großes Brett gepinnt, an dem man die Forderungen mit »ich stimme zu« oder »ich stimme nicht zu« markieren kann. Ein guter Weg, um in Dialog mit den Wählern zu treten.

Eine Frau mittleren Alters mit Kopftuch ist mit Mann und Kind zufällig vorbeigekommen. Sie steht an dem Brett und liest sich die Forderungen durch. Ich plaudere mit ihrem Mann. Er lebt seit 37 Jahren in Deutschland, hat aber »aus verschiedenen Gründen« nicht die deutsche Staatsbürgerschaft. Seine Frau jedoch ist deutsche Staatsbürgerin. Mittlerweile sehe ich, dass sie alle angepinnten Forderungen mit »ich stimme zu« markiert hat. Diese sind bekannt: Eine Erhöhung des Mindestlohns und der Gehälter, höhere Renten sowie höhere Steuern für Reiche. Nachdem sie fertig ist, sage ich: »Also geben sie ihre Stimme der Linkspartei«. Ihre Antwort ist klar: »Nein«. Dann fährt sie fort: »Aber ich werde definitiv wählen gehen. Was Erdoğan sagt, interessiert mich überhaupt nicht.«

Es existieren keine aussagekräftigen Zahlen darüber, wie viel Prozent der konservativen türkeistämmigen Wähler so denken. Aber sicher ist, dass längst nicht alle Erdoğan folgen werden.

Da Türkeistämmige in Deutschland unterschiedlichster Herkunft sind und verschiedene Weltanschauungen haben, resultieren die Gemeinsamkeiten hier hauptsächlich aus ihrer Klassenzugehörigkeit. Wegen dieser haben sie in der Vergangenheit mehrheitlich linke Parteien gewählt - und werden es auch weiterhin tun.

Aus dem Türkischen von Nelli Tügel

Die etwas längere türkische Fassung dieses Textes lesen Sie hier.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal
Mehr aus: Die andere Türkei