Neue Chance für »Scheibe A«

Mitten in Halle-Neustadt verkommt ein Riesenhaus - zieht nun Halles Stadtverwaltung ein?

  • Maximilian Mühlens, Halle
  • Lesedauer: 4 Min.

Kalt wirkt der graue Beton des Hochhauses. Hier und da sind Fenster eingeschlagen, Glasscherben liegen auf dem Boden. Großflächige Graffiti ziehen die Blicke der Passanten auf sich. Tauben haben das Hochhaus erobert, sitzen auf den Geländern und Balkonen - überall kleben ihre Hinterlassenschaften. Es stinkt.

An Schaufenstern von Geschäften, die sich einst in den oberen Etagen befunden haben, klebt noch Werbung. »Medizin nach Noten« oder »Tattoo & Piercing« ist da zu lesen. Auf der Eingangstür eines ehemaligen Casinos wird darum gebeten, dass man »Nicht stören« solle. Seit Sommer 1998 steht die »Scheibe A«, wie das Hochhaus mitten in Halle-Neustadt genannt wird, leer und fristet seitdem ein trauriges Dasein. Doch jetzt könnte dem Gebäude neues Leben eingehaucht werden.

1972 wurde das Haus als Teil eines Ensembles von fünf Hochhäusern - den sogenannten »Scheiben« von Halle-Neustadt - als Studentenwohnheim gebaut, mit einer Nutzfläche von 12 000 Quadratmetern. Vier der fünf Hochhaustürme stehen seit mehr als zwei Jahrzehnten leer und wurden seitdem auch nicht saniert. Halle-Neustadt gilt als sozialer Brennpunkt - die unansehnlichen Scheiben transportieren dieses Bild nach außen.

Doch damit soll nun Schluss sein. Bei einem Bürgerentscheid am Tag der Bundestagswahl am 24. September sind die Hallenser aufgerufen zu entscheiden, ob die Verwaltung der Stadt Halle in die »Scheibe A« einziehen soll. Bedingung: Die Nettokaltmiete liegt bei maximal 9,90 Euro pro Quadratmeter und dieser Mietpreis ist für 30 Jahre verbindlich.

Das Bürgerbegehren initiierte der Halle-Neustadt Verein. Denn am 18. Oktober soll die »Scheibe A«, die einer mittlerweile aufgelösten englischen Immobiliengesellschaft gehörte, am Amtsgericht Halle zwangsversteigert werden. Der Verkehrswert liegt laut Gutachten bei 560 000 Euro. Interessenten, die das Objekt kaufen und sanieren möchten, würde es für den Betonriesen genug geben, erklärte der Halle-Neustadt Verein. Die Stadt könnte dann als Mieter einziehen.

Im Juni 2017 sammelte der Verein innerhalb von kurzer Zeit 7692 Unterstützerunterschriften für den Bürgerentscheid - 7500 Unterschriften waren notwendig. »Wir haben das Begehren auf den Weg gebracht, weil der Stadtrat eine Entscheidung zu den ›Scheiben‹ immer wieder vertagt hat«, erklärte der Vorsitzende des Vereins, Andreas Schachtschneider. Ziel des Vereins ist es, die Hochhäuser zu sanieren und die Umgebung um die Neustädter Passage zu revitalisieren.

Von der Verwaltung der Stadt Halle kam der Vorschlag, dass Teile von ihr in die »Scheibe A« einziehen könnten. Die derzeitige Struktur der Verwaltungsstandorte sei ineffizient und unwirtschaftlich. 26 Gebäude zählt die Verwaltung derzeit im Stadtgebiet - in mehr als einem Drittel seien weniger als 20 Mitarbeiter untergebracht. Der Investitions- und Instandhaltungsstau sei zudem sehr hoch.

Um zu prüfen, ob der Einzug in die »Scheibe A« oder ein Neubau wirtschaftlicher ist, beauftragte die Stadt die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Rauschenbach. Diese stellte ein Konzept auf, dass eine Reduzierung der Zahl der Verwaltungsstandorte von 26 auf 17 vorsieht sowie einen neuen Verwaltungsstandort für 450 Mitarbeiter. So würde es nur noch fünf Standorte mit weniger als 20 Mitarbeitern geben und drei große, angemietete Gebäude könnten verlassen werden.

In der »Scheibe A« würden der Stadt 11 500 Quadratmeter Nutzfläche zur Verfügung stehen. »Die Sanierungskosten schätzen wir auf rund 32,6 Millionen Euro«, erklärte Jan-Ole Prasse von dem Wirtschaftsprüfungsbüro. Ein Neubau würde 40,1 Millionen Euro kosten - bei einer Nutzfläche von 8400 Quadratmetern. »Die Reduzierung der Verwaltungsstandorte führt sowohl bei der Scheibe A als auch beim Neubau in der Schimmelstraße zu Einsparungen zwischen 41 und 48 Millionen Euro«, sagte Prasse. Unter Einbeziehung der Baukosten sei die Nutzung der »Scheibe A« gegenüber einem Neubau jedoch wirtschaftlich vorteilhafter.

Bei einer Ersparnis von 41 139 930 Euro über 30 Jahre errechnet sich daraus eine Netto-Kaltmiete von 9,90 Euro pro Quadratmeter. »Bis zu einem Mietpreis von 9,90 Euro ist die Scheibe für die Stadt kostenneutral«, erklärte Prasse. Deshalb gilt bei dem Bürgerentscheid die Vorgabe, dass die Miete über 30 Jahre nicht über die 9,90 steigen darf. Einziehen könnten in das Hochhaus das Technische Rathaus oder das Sozialrathaus/Bürgerzentrum.

Voraussetzung ist natürlich, dass der neue Eigentümer einen Mietvertrag mit der Stadt abschließt - daran gibt es jedoch keine Zweifel. Sollte es trotzdem nicht zu einem Vertrag kommen, wertet Halles Oberbürgermeister Bernd Wiegand das Begehren dennoch als großen Erfolg. »Der Stadtrat wird endlich zum Handeln gezwungen«, sagte Wiegand. dpa/nd

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