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Im Zweifel gegen die Anwälte

Mitglieder der linken Juristenorganisation ÇHD stehen unter »Terrorverdacht«

  • Jan Keetman
  • Lesedauer: 3 Min.

Es begann ganz harmlos. Die Dozentin Nuriye Gülmen und der Grundschullehrer Semih Özakca wollten wieder zurück an ihre Arbeit. Beide waren wie über 100 000 andere Staatsdienerinnen und Staatsdiener per Dekret entlassen worden. Weder wurden genaue Gründe für die Entlassung genannt, noch gab es wegen des Ausnahmezustandes die Möglichkeit, den Rechtsweg zu beschreiten. Also setzten sich die beiden vor das Menschenrechtsdenkmal in der Yüksel Caddesi. Schließlich entschlossen sie sich, einen Hungerstreik zu beginnen. Der Hungerstreik wurde von der Staatsanwaltschaft als eine gezielte Aktion der terroristischen, linken Revolutionären Volksbefreiungspartei - Front (DHKP-C) gewertet. Die beiden kamen in U-Haft.

Am 14. September sollte der Prozess sein. Zwei Tage vorher wurden die Büros der beiden Anwälte von Nuriye Gülmen und Semih Özakca durchsucht. Die Polizei beschlagnahmte dabei auch Unterlagen, die den Prozess der Hungerstreikenden betrafen, und nahm die Anwälte fest.

Der Gerichtstermin wurde überraschend abgesagt, weil man »Provokationen« entlang des Weges vom Gefängniskrankenhaus, wo Nuriye Gülmen und Semih Özakca zwangsernährt werden, zum Gericht befürchtete. Mittlerweile hatten mehr Anwälte das spektakuläre Verfahren übernommen. Darauf wurden 16 Anwälte festgenommen und 14 kamen nach neun Tagen im Polizeigewahrsam am Donnerstag selbst in Untersuchungshaft.

Das Verfahren mag den Anwälten, wenn man davon absieht, dass sie diesmal selbst betroffen sind, nur zu bekannt vorkommen. Die Akten sind geheim und ebenso gibt es Zeugen, deren Identität geheim gehalten wird, wenn es sie überhaupt gibt, was ja nur die Staatsanwaltschaft weiß. Aus den Fragen der Staatsanwälte lässt sich jedoch ersehen, dass ihnen die Vertretung in bestimmten Verfahren vorgeworfen wird.

Ein Anwalt wurde zum Beispiel gefragt, warum er die Eltern von Berkin Elvan vertreten habe. Berkin Elvan war ein 14-jähriger Junge. In der Zeit der Gezi-Proteste 2013 sollte er für die Familie morgens Brot holen. Die Wohnung der Elvans lag etwa zwei Kilometer vom umkämpften Gezi-Park entfernt, aber die Scharmützel hatten sich bis in die Nähe ausgedehnt. Auf der Straße schoss ein Polizist eine Gasgranate gezielt auf den Jungen, den er am Kopf trat. Nach vielen Monaten im Koma starb Berkin Elvan. Nun ist selbst die Vertretung seiner Eltern ein mögliches Verbrechen.

Nicht nur türkische Anwälte sind entsetzt über das Vorgehen. Der Präsident des Deutschen Anwaltsvereins, Ulrich Schellenberg nannte es eine »perfide Logik«, wenn Anwälte wegen der Mandanten beschuldigt würden, die sie verteidigen. Es gäbe bereits Fälle, dass ein Beschuldigter keinen Anwalt mehr finden würde, weil die Anwälte schlicht Angst hätten.

Verwunderlich ist ein solches Vorgehen nicht in einem Land, in dem der Präsident Recep Tayyip Erdogan in einem Jahr ein Viertel der Richter - über 3800 - ausgetauscht hat und jeden für einen Terroristen hält, der gegen seine Politik ist.

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