Jagd auf Vertriebene

Tunesien forciert die Verfolgung von Migranten, die nach Europa wollen

  • Mirco Keilberth, Al-Amra
  • Lesedauer: 8 Min.
Die gestrandeten Migranten in Al Amra bekommen keinerlei Zuwendungen und leben in selbst errichteten Camps. Sie warten auf eine Möglichkeit zur Überfahrt nach Europa.
Die gestrandeten Migranten in Al Amra bekommen keinerlei Zuwendungen und leben in selbst errichteten Camps. Sie warten auf eine Möglichkeit zur Überfahrt nach Europa.

Am frühen Morgen ist von dem kommenden Unheil noch nichts zu spüren. In den umliegenden Olivenfeldern lebende Migrantinnen bitten wie immer auf dem quirligen Markt von Al-Amra um Spenden, bestaunt von vorbeiziehenden Schulkindern und unter verächtlichen Blicken von Passanten.

Bis letzten Oktober herrschte in dem 3000-Einwohner-Küstenort ein beschaulicher Alltag, fernab der Touristenmetropole Sousse weiter nördlich und den Metallfabriken von Sfax, der eine halbe Autostunde entfernten Handelsmetropole im Süden Tunesiens. Jetzt wirkt Al-Amra so bunt wie eine afrikanische Großstadt. Über 70 000 Menschen aus Ländern südlich der Sahara leben in den schier endlosen Olivenhainen der Umgebung. Die Behörden haben die westafrikanischen Migranten und Flüchtlinge aus dem Sudan gezielt an die Küste vertrieben.

Nach dem Mord an einem tunesischen Vermieter und der aufheizenden Rede von Präsident Kais Saied im Frühjahr 2023 herrscht ohnehin schon eine Pogromstimmung im Land, Jugendgangs jagten Dunkelhäutige, Busse der Stadtverwaltung von Sfax brachten willkürlich Verhaftete an die libysche Grenze – ohne Wasser und Nahrung. Als einige Migranten in der Sahara verdursteten, kam aus Europa keine Kritik. Aber EU-Parlamentspräsidentin Ursula von der Leyen reiste im Juli nach Tunis, zusammen mit Giorgia Meloni und Mark Rutte. Die beiden Regierungschefs aus Italien und den Niederlanden waren gerade mit dem Versprechen gewählt worden, die Migration aus Nordafrika zu stoppen.

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In Al-Amra setzt das im letzten Sommer geschmiedete Bündnis zwischen Brüssel und Tunis nun seine neue kompromisslose Strategie durch. Tunesien hat bisher 160 Millionen Euro für die verstärkte Grenzsicherung bereitgestellt, außerdem stellte die EU eine Wirtschaftshilfe im Umfang von bis zu einer Milliarde Euro in Aussicht. Im Gegenzug dafür stoppten die tunesischen Sicherheitskräfte das Ablegen so vieler Boote mit Migranten wie nie zuvor.

Allerdings bedrohen libysche Milizen Durchreisende aus Ländern südlich der Sahara nach wie vor mit Entführung und Erpressung, sodass viele Flüchtende weiterhin nach Tunesien ausweichen. Die unübersichtliche Küste dort ist zum Sprungbrett nach Lampedusa und Sizilien geworden. Allein am 12. September letzten Jahres kamen 7000 Migranten auf Lampedusa an.

Der Gemüsehändler Mohamed Ben Ali beschwert sich über die vielen Migranten. »Die Regierung hat nicht gefragt, was wir davon halten«, sagt der 45-Jährige. Er könne seine Kinder nicht mehr alleine zur Schule schicken. Seit die Flüchtenden in Al-Amra ohne Auskommen festhängen, herrsche Angst. Anders als im letzten Jahr ist es Tunesiern nun verboten, Migranten als Tagelöhner anzustellen oder Wohnungen an sie zu vermieten. Obwohl der Bedarf an Erntehelfern riesig ist. »Nach der Ankunft der Migranten konnten zunächst viele hier ihr Einkommen aufbessern. Seit sie aber nicht einmal Geld haben, sich Essen zu kaufen, gibt es Kriminalität und Konflikte«, sagt Ben Ali.

Als der morgendliche Stau vor seinem Laden von 50 Einsatzfahrzeugen der Nationalgarde und Polizei durchbrochen wird, ist ihm Erleichterung anzusehen. »Wir wollen die Migranten hier nicht mehr«, gibt ein Kunde die Stimmung der meisten Bewohner von Al-Amra wieder.

Dem Gesicht von Marry aus Sierra Leone ist hingegen Panik abzulesen. Die Mutter einer Dreijährigen muss mit ihren Betteltouren eine Gruppe von acht Mitreisenden ernähren. Männer bleiben aus Angst vor Verhaftung auf den Feldern. Marry fürchtet, die Beamten könnten auch die Plastikplanen und das Holz ihres Zeltes zerstören. Als die Kolonne der Sicherheitskräfte am Kilometerstein 35 von Al-Amra in einen Olivenhain abbiegt, fliehen die ersten Migranten in die umliegenden Felder. Sie tragen Töpfe und Decken aus ihren Zelten. Marry warnt ihre Mitreisenden per Whatsapp vor der beginnenden Razzia. Auch sie leben in dem »Kilometer 35« genannten Lager.

Wenig später steigt dort eine pechschwarze Rauchwolke auf, in der Ferne fallen Schüsse. Angeblich kommt ein Sudanese bei der Auseinandersetzung mit den Beamten ums Leben, berichten Migranten in den sozialen Medien. »Sie haben mehr als 3000 Menschen verjagt«, sagt Marry und setzt sich auf einen Markthocker. »Aber diese Strategie ist doch sinnlos, dann warten wir eben ein paar Kilometer weiter auf unsere Abfahrt nach Lampedusa.«

Der Aufmarsch von Nationalgarde und Polizei am Dienstag ist der Auftakt zu einer der größten Vertreibungsaktionen von Migranten in den letzten Monaten. Auch Marrys Mitreisende haben dabei ihr Zelt verloren, konnten sich aber mit gerettetem Kochgeschirr und ein paar Decken in Sicherheit bringen. Aber vor allem Männer, die in Al-Amra alleine oder in Gruppen nach Geld oder Lebensmitteln suchen, haben weniger Glück. Sie werden am Mittwochmorgen in bereitstehende Busse gepfercht und später ins Niemandsland an der libyschen Grenze gefahren.

Abubaker Bangura ist kein Mann leiser Worte. Seine derzeitige Unterkunft in dem Lager, das »Kilometer 30« genannt wird, beschreibt der Ingenieur aus Sierra Leone so: »Es ist eben das einzige Zuhause, das wir derzeit haben.« In dem aus Plastikplanen, Holzlatten und Nylonband notdürftig zusammengebauten Zelt leben neben dem Ingenieur sieben Menschen. Nachts ist es bitterkalt. Seine Familie leidet an Hautkrankheiten, wegen der Wanzen und der seltenen Gelegenheit sich zu duschen. Seine Schwester Azza, deren Mann Mohamed, Abubakers Frau Leoni und seine Cousins schlafen seit acht Monaten in Schichten auf den drei vorhandenen Wolldecken. Nur die dreijährige Tochter Lucille hat eine eigene Matratze.

Mehr als 3000 Menschen leben wie die Familie aus Sierra Leone in dem Lager. Es gibt in dem Olivenhain mit dem staubtrockenen Sandboden weder Medikamente noch genügend zu essen. Über 300 Babys müssten versorgt werden, sagt der gläubige Moslem. Die umgerechnet 700 Euro für die Fahrt nach Italien hat niemand von ihnen. Wie viele hier hat die Großfamilie bereits eine Überfahrt gewagt und wurde von der Küstenwache gestoppt. Von ihrer Familie können sie keine weitere Unterstützung erwarten.

Auf dem Gelände, das einem Olivenbauern gehört, gibt es keine Toiletten und schon gar keine Schule oder sonstige Einrichtungen. »Obwohl einige hier schon seit über einem Jahr leben, haben bisher weder das Flüchtlingshilfswerk UNHCR noch die Internationale Organisation für Migration IOM geholfen«, sagt der 35-Jährige. »Ohne Geld können wir nicht zurück nach Sierra Leone.« Auch wenn die Lager seit Monaten bestehen und bislang für keine Schlagzeilen gesorgt haben, so hat sich die Lage in den letzten Wochen zugespitzt.

Doch es gibt auch immer wieder Unterstützung für die Gestrandeten. »Viele Tunesier geben mir Essen oder Kleingeld. Sie sind schockiert von der Lage, in die wir geraten sind«, sagt Mary Saw. Die 27-Jährige bringt durchschnittlich 10 Euro am Tag von ihren Betteltouren aus Al-Amra in das fünf Kilometer entfernt liegende Camp »Kilometer 30«. Von dem Geld kauft sie Lebensmittel für fünf Mitreisende. »Wenn ich nichts ergattern kann, essen wir manchmal tagelang nichts.«

Vor vier Jahren hat sie sich aus Guinea über Mali, Algerien und Libyen auf den Weg nach Europa gemacht. »Mein Ziel ist Europa, unser gelobtes Land«, sagt sie. Wie viele in dem Lager glaubt auch sie, dass die tunesischen Behörden die Lebensumstände ganz bewusst nicht verbessern. »Aber diese Politik der Abschreckung funktioniert nicht. Ich habe wie fast alle hier zu Hause überhaupt keine Hoffnung. Weder auf einen Job noch auf irgendeine Form von Sicherheit im Leben.«

Der Preis für die Suche nach einem besseren Leben war schon vor der gefährlichen Überfahrt hoch. In der dreimonatigen Haft in der libyschen Stadt Sabratah haben sie die Wächter mehrmals vergewaltigt. Marys mitreisende Schwester kümmert sich um die zweijährige Rabiate, deren Mutter bei dem gemeinsamen Marsch durch die libysche Wüste nach Tunesien morgens nach Wasser suchte. Seitdem ist sie verschollen. Viele Bewohner des Lagers haben auf ihrer bisherigen Reise ähnliche traumatisierende Erfahrungen gemacht.

Weil es zwischen den aus 19 Ländern kommenden Migranten in dem Camp immer wieder zu Gewalt und Diebstählen kam, versucht nun ein selbst organisiertes Komitee die Konflikte zu entschärfen. Selbst bei Streit zwischen Ehepaaren oder während der täglichen Fußballspiele im Lager verhängen Mediatoren kleine Geldstrafen. Jedes der Lager entlang der Landstraße zwischen Sfax und Al-Amra wird von einer Nation dominiert. Nicht so bei »Kilometer 30«. »Das Miteinander ist hier demokratischer und friedlicher, denn viele Gebildete und Familien haben hier Schutz gesucht«, sagt Sekkri aus Sierra Leone. Der 25-Jährige geht zusammen mit einem Dutzend anderer Migranten am Rande des Olivenhains Streife. Die Gruppe soll im Auftrag der Mediatoren versuchen, von der Polizei vertriebene Migranten und Flüchtlinge fernzuhalten. »Vor alle Sudanesen lassen wir nicht hinein. Sie kommen stets in großen Gruppen und sind vom Krieg in ihrer Heimat traumatisiert«, sagt Sekkri. »Der kleinste Streit führt zu Gewalt.«

Der schmächtige Mann hat vor zwei Tagen vom Tod seines älteren Bruders erfahren. Dieser war trotz des windigen Wetters zusammen mit 40 Passagieren nach Lampedusa aufgebrochen. Das Metallboot kenterte, als bei Dunkelheit auf hoher See Panik ausbrach. 20 Überlebende wurden von der tunesischen Küstenwache aus dem Wasser gefischt. »Ich bin traurig über seinem Tod. Aber er hat zumindest probiert, ein besseres Leben zu finden.« Wie allen hier erklärt sich auch Sekkri das Kalkül der Sicherheitskräfte so: »Die Lage für uns soll so unerträglich werden, dass wir zurück in die Heimat gehen.«

Für das Scheitern dieser Strategie sorgt ausgerechnet eine Organisation, die von der Regierung in Berlin großzügig finanziert wird: Die IOM hält sich offenbar wegen des Drucks der Regierung von den mehr als einem Dutzend Lagern bei Sfax fern. »Sie kamen nur einmal und brachten Decken«, erinnert sich Abubaker Bangura. »Selbst wenn ich umkehren und zurück nach Hause wollte – das Verfahren bei der IOM dauert Jahre.«

Im Lager »Kilometer 30« bereitet man sich auf die nächste Polizeiaktion vor. Das Hab und Gut wird in Bäumen und Büschen versteckt. »Das Leiden hat bald ein Ende«, sagt Sekkri lächelnd. »Ich nehme ein Boot. Egal, welchen Preis die Fahrt nach Europa hat.«

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