»Digitale Alphabetisierung« mit Linux

Venezuela treibt den Wechsel zur freien Software voran, um die Unabhängigkeit zu stärken

  • Andreas Klug und Heike Demmel
  • Lesedauer: 4 Min.
Migration hat in Venezuela Hochkonjunktur. Sie wird staatlich gefördert. Dabei geht es jedoch nicht um Menschen, sondern um die Umstellung der Computer von Windows auf Linux-Software.
Caracas, Platz der Revolution, nur wenige Schritte zum Präsidentenpalast: Wir stehen vor einer überlebensgroßen Plastikpuppe, Präsident Hugo Chávez im Walt-Disney-Look. Etwas kitschig kommt sie daher, diese »venezolanische Revolution«. Doch hinter uns, im Bildungsministerium, geht's ernsthafter zu. »Migration« nennen Fachleute größere Software-Umstellungen - und hier im Bildungsministerium wird derzeit migriert von Windows zu Linux - oder politischer ausgedrückt, von US-Produkten hin zu eigenen Entwicklungen. Open-Source ist die offizielle Parole, die »Migración a Software Libre« beschlossene Sache. »Freie Software« - wie man in Venezuela sagt - wird laut Regierungs-Dekret 3390 in Schlüsselbereichen die bisherigen proprietären Lösungen ersetzen. Das dürfte den Gründer der Free Software Foundation, Richard Stallman, freuen: Stallman hatte im Sommer 2005 beim Besuch des ersten venezolanischen Open-Source-Kongresses gefordert, dass insbesondere an die Schulen zu denken sei, die junge Generation müsse den Geist, aber auch die praktische Arbeit mit freier Software kennenlernen.

Venezuela und Kuba Hand in Hand
Venezuela weiß sich in guter Gesellschaft mit dieser IT-Entscheidung: Im Beisein Stallmans hat die kubanische Regierung jüngst auf der »International Conference on Communication and Technologies« in Havanna bekannt gegeben, dass auch sie Behörden-PCs auf Linux umstellen wird. In Brasilien wurde dieser Tage der 50 000. Linux-Computer ausgeliefert. Ziel des 2003 initiierten Programms Computador para todos (»Computer für Alle«) ist es, allen Einwohner/-innen Brasiliens einen Computer zu verschaffen.
In Venezuela erfolgt derzeit die Umstellung der ersten Arbeitsplätze in den Ministerien, folgen werden die ersten Schulen sowie die Infocentros. Eintausend solcher Zentren gibt es mittlerweile, moderne Räume mit Klimaanlage und ein, zwei Dutzend Internetcomputern. Wir finden sie in kleinen Fischerdörfern, die nur per Boot erreichbar sind, oder auch in Catia, einem Stadtteil von Caracas, wo die ärmere Bevölkerung lebt. Analphabetismus gibt es in Venezuela nicht mehr - sagt die UNESCO -, dank »Misiónes« genannter Kampagnen haben die einfachen Leute in den letzten Jahren schreiben und lesen gelernt. Die »digitale Alphabetisierung« soll nun folgen, in den Infocentros kann man angeleitete Kurse belegen. Anibal Reinoso erklärt die Linux-Distribution Kubuntu und freut sich: »Was Viren oder Angriffe von Hackern angeht, hat Linux viele Vorteile. Und es hat einen offenen Quellcode.« Damit meint er, dass Leute, die sich genauer für das System interessieren oder sogar programmieren können, beliebig Hand anlegen können: »Wenn mir bei Linux etwas nicht gefällt, kann ich es einfach ändern.«
Der Regierung geht es darum, von Importen insbesondere aus den USA unabhängiger zu werden. Während der gegen Chávez gerichteten Sabotageaktionen Ende 2002 musste man zusehen, wie die Ölindustrie lahmgelegt wurde. Die Saboteure hatten den Zugang zur Steuersoftware für die Bohrlöcher regelrecht verbarrikadiert. Vor diesem Hintergrund sind nun auch der staatliche Erdölkonzern PDVSA sowie weitere strategisch wichtige Bereiche in Industrie und Verwaltung auf den Open-Source-Weg gebracht worden.

Open Source in allen Bereichen
Auch kleinen und mittelständischen Unternehmen sowie der Landwirtschaft werden konkrete Angebote gemacht. Wir fahren in die Anden, passieren Gemüse- und Obstanbaugebiete, Ziel ist die Universitätsstadt Merida. Hier wurde im November letzten Jahres das Software-Entwicklungs-Zentrum Cenditel eröffnet. Zu den Feierlichkeiten kam Präsident Chávez persönlich vorbei, um die Wichtigkeit zu unterstreichen, die die Regierung den offenen Technologien beimisst. Cenditel-Leiter José Aguilar betont, wie wichtig es neben der Software-Entwicklung selbst ist, gerade auch in ländlichen Gebieten bei den Nutzern und Nutzerinnen präsent zu sein. Hier in Merida sind in den letzten drei Jahren alle ländlichen Regionen in Freier Software geschult worden. Für die Landwirtschaft etwa wird branchenspezifische Software entwickelt und den Bauern dann zur Verfügung gestellt, größere Betriebe erhalten eine maßgeschneiderte, offene Alternative zur Unternehmens-Software SAP. Die Abhängigkeit von solchen Unternehmen zu reduzieren, die Software sogar patentieren wollen, ist von der Regierung politisch gewollt, die Landwirtschaftsbetriebe schätzen das Angebot aus kostenloser Software und kostenloser Schulung.
Die Fäden dieser venezolanischen IT-Strategie laufen in Caracas zusammen, bei Eduardo Samán vom venezolanischen Handelsministerium. Er berichtet von Überlegungen, auch im Bereich der eingesetzten Geräte ausschließlich solche Hardware zu verwenden, deren technische Details offen dokumentiert sind. Im März nun werden die ersten ungewöhnlich preisgünstigen Computer aus einem chinesisch-venezolanischen Joint-Venture ausgeliefert, produziert bei »Venezolana de Industria Tecnológica« (VIT) in Paraguaná, unweit der größten Erdölraffinerie der Welt. Zunächst gehen die Rechner allerdings an die öffentlichen Infocentros und an kostenlose Internet-Cafés in Bibliotheken.

Vision der wirklich freien Software
Vielleicht regt der Panorama-Blick aus Samáns Bürofenster im obersten Stock eines Bürohochhauses zu visionären Gedanken an? Jedenfalls gefallen ihm die Ideen der Free Software Foundation, die Ideen von offenem Quellcode und freien Computerprogrammen. Nur müsse wirklich freie Software noch ein weiteres Kriterium erfüllen: »Wir, vom Standpunkt der venezolanischen Revolution aus, möchten den Grundstein legen dafür, dass die Freie Software zusätzlich frei von Ausbeutung sein soll«, meint er. Seine Überlegung: »Wenn eine kapitalistische Firma ihren Programmierern Lohn bezahlt, und der Besitzer behält den Mehrwert für sich, dann verändere ich die Produktionsbedingungen der Gesellschaft nicht.«
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