Chirac nimmt Abschied

Noch keine Wahlempfehlung für Sarkozy als Nachfolger

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 3 Min.
Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac wird nicht für eine dritte Amtszeit kandidieren. Diese Entscheidung - allgemein erwartet - gab Chirac in einer Fernsehansprache am Sonntagabend bekannt. Vermisst wurde allerdings eine Empfehlung für die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen.
Zum Präsidentschaftskandidaten der rechten Einheitspartei UMP, Innenminister Nicolas Sarkozy, hat Jacques Chirac seit der Wahl 1995 ein gespanntes Verhältnis: Sarkozy unterstützte seinerzeit Chiracs Rivalen Edouard Balladur. Heute könnte Sarkozy eine helfende Geste des scheidenden Staatschefs durchaus gebrauchen, auch wenn er laut jüngster Umfrage der Sonntagszeitung »Journal du Dimanche« mit 29 Prozent der Stimmen deutlich an der Spitze liegt. Auf die Sozialistin Ségolène Royal entfielen nur noch 23 Prozent - nicht mehr als auf den Zentrumspolitiker François Bayrou, der sie vom zweiten Platz und damit aus deR Stichwahl zu verdrängen droht. Jacques Chirac richtete an seine Landsleute den Appell, sich gegen Rassismus und Extremismus zu wenden, die europäische Einigung zu unterstützen und selbstbewusst zur Stärke Frankreichs in der Welt beizutragen. Mit einer Bilanz seiner Präsidentschaft hielt er sich nicht lange auf. Die ist auch durchaus widersprüchlich. Seine erste wichtige Entscheidung war im Juni 1995 die zur Wiederaufnahme der französischen Atomversuche im Pazifik, wofür er sehr viel Kritik im In- und Ausland erntete. Die nächste, allgemein begrüßte Geste war im Juli 1995 die Anerkennung der Mitschuld des französischen Staates an der Deportation der Juden im Zweiten Weltkrieg, wozu sich keiner seiner Vorgänger hatte durchringen können. Chiracs wichtigste und international am meisten beachtete Entscheidung war die zum Widerstand gegen den USA-Krieg in Irak. Dass im Mai 2005 beim Referendum über die EU-Verfassung 55 Prozent der Franzosen mit Nein stimmten, lastet Chirac heute dem Mangel an eigenem Engagement an, ohne auf die eigentlichen Beweggründe der Mehrheit einzugehen. Wenig Gespür für die Wünsche der Franzosen hatte er schon 2002 bewiesen, als ihn 80 Prozent - auch die meisten Linkswähler - im Amt bestätigten, um dem Rechtsextremisten Jean-Marie Le Pen den Weg zu verlegen. Die Chance, mit diesem parteienübergreifenden Rückhalt große, seit langem überfällige Reformen der Gesellschaft anzupacken, ließ er ungenutzt verstreichen. Zahlreiche innenpolitische Konflikte schwelten weiter. Als im Herbst 2005 die Empörung von Jugendlichen ausländischer Herkunft über Rassismus und Diskriminierung zu Ausschreitungen in den Sozialwohnsiedlungen am Rande der großen Städte führte, blieb Chirac lange stumm. Als er sich endlich zu Wort meldete, wurde er dem Ernst der Lage nicht gerecht. Auch in Wirtschafts- und Sozialpolitik hat Chirac wenig Gutes vorzuweisen. Seine erste Regierung unter Premier Alain Juppé löste mit einem Angriff auf die Renten eine landesweite Streikwelle aus, die das Projekt mitsamt der Regierung zu Fall brachte. Seine Wahl 1995 hatte Chirac nicht zuletzt durch das Versprechen gewonnen, den »sozialen Bruch der Gesellschaft« zu überwinden. Die Erfüllung blieb er schuldig. Und die Arbeitslosigkeit der er vor seiner Wiederwahl 2002 den Kampf ansagte, ist heute ebenso hoch wie 1995. Aufgrund der Abwanderung vieler Betriebe ins Billiglohnausland verschlechterte sich die Außenhandelsbilanz, und die Staatsverschuldung wuchs auf mehr als 1,1 Billionen Euro. Zahlreiche politische Skandale - darunter die Affäre um den Mineralölkonzern Elf, in die auch deutsche Politiker und Geschäftsleute verstrickt waren - überschatteten die Amtszeit Chiracs. In den Prozessen um die Bezahlung von Funktionären seiner damaligen Partei RPR aus der Pariser Stadtkasse tauchte auch immer wieder der Name des früheren Pariser Bürgermeisters selbst auf - doch der war inzwischen als Präsident durch seine Immunität vor den Nachstellungen der Justiz geschützt. Abzuwarten bleibt, ob demnächst der einfache Bürger Chirac vorgeladen wird, um offene Fragen und Vorwürfe zu klären.
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