Käse und Wurst wurden nicht geduldet

Catherine Merridale erinnert an die Heimkehr von Lenin und Genossen nach Russland

  • Wladislaw Hedeler
  • Lesedauer: 5 Min.

Die englische Ausgabe von »Lenins Zug« der renommierten Russland-Historikerin Catherine Merridale kürte die »Times« 2016 zum Buch des Jahres. Zu Recht, wenn man die von der Autorin beleuchtete, hinter den diplomatischen Kulissen von Russlands Verbündeten im Ersten Weltkrieg, England und Frankreich, verborgene Einflussnahme auf die russische Außen- und Militärpolitik im Blick hat. Diese spannend und gut geschriebenen Kapitel liest man mit Gewinn. Die Beschreibungen der Aktivitäten der mit dem russischen Exil befassten Staatsbeamten, von den Botschaftern bis hin zu den subalternen Geheimdienstlern, gehören zu den gelungensten Passagen im Reisebericht. Auf das in der Werbung gepriesene »maßgebliche Buch über Lenins Zugreise« muss der interessierte Leser hingegen weiterhin warten. Genau genommen kommt das Schweizer Exil hier nicht vor.

Im Züricher »Volksrecht« erschienen seit den Meldungen über die Fe-bruarereignisse in Petrograd regelmäßig Berichte und Schilderungen über die unter Exilanten geführten Debatten über eine schnellstmögliche Heimkehr nach Russland. Diese analysiert die Autorin indes nicht.

Dem eigentlichen Reisebericht über die Zugfahrt der von Lenin angeführten Gruppe, der eigentlich erst ind er Mitte des Buches beginnt, sind fünf Kapitel vorangestellt, in denen es um die Spionage und Geheimdiplomatie der Engländer und Franzosen geht, die alles daransetzten, ihren Bündnispartner in der Entente zu halten. In diesem Zusammenhang kommt leider die Rolle der Verbündeten Russlands bei der Unterstützung der Rückkehr von Georgi Plechanow, der Verhaftung und Internierung von Leo Trotzki oder den Iwan Maiski in den Weg gelegten bürokratischen Hürden, um nur einige der neben Lenin bekanntesten Weggefährten zu nennen, viel zu kurz. Die Rolle der aus englischen und französischen Sozialisten zusammengesetzten Delegation, der sich der »Vaterlandsverteidiger« Plechanow anschloss, ist für die Autorin kein Thema, denn sie legt den Schwerpunkt auf die Darstellung der Finanzierung und Absicherung der Zugfahrt Lenins durch die deutschen Behörden.

Auf knapp hundert Seiten gibt sie Ereignisse und Eindrücke von der von ihr rekonstruierten, über 2300 Kilometer langen Zugreise wieder. Feuilletonrezensenten haben die peniblen Beschreibungen der passierten Stationen bereits zur Genüge ironisiert. »Die Route ist kein nebensächliches Detail«, hebt Catherine Merridale zu Recht hervor, denn viele Historiker gehen von einer Streckenführung aus, »die um mehr als 1600 Kilometer von der Realität abweicht«. Warum jedoch etliche, in den Erinnerungen der Exilanten zum Teil voneinander abweichend beschriebene Episoden während der Fahrt, Charakteristiken der Mitreisenden oder die wenigen Begegnungen auf Stationen in Deutschland ausgespart worden sind, bleibt ein Rätsel. Denn in den anderen Kapiteln kommentiert die Autorin nach Möglichkeit stets mehrere überlieferte Versionen des Geschehens.

Einige von Catherine Merridale ignorierten Beispiele seien hier genannt: In Nadeschda Krupskajas Erinnerungen ist u. a. von einer Bundistin und deren Sohn Robert, »einem Lockenkopf, der nur französisch sprach«, die Rede. In Karl Radeks Wahrnehmung war Roberts »Gebrabbel ein Mix aus Deutsch und Englisch: Mamele wusi dues?« Glaubt man Nadeschda Krupskaja, wurde den Reisenden das Essen ins Abteil gebracht. Für Lenin und seine Frau gab es Bouletten mit Erbsen. Bei Jelena Ussijewitsch wiederum waren es riesige Schweineschnitzel mit Kartoffelsalat. »Wir gaben das Essen den völlig ausgehungerten Kellnerinnen zurück«, notierte sie, »da wir uns in der Schweiz mit Proviant für mehrere Tage eingedeckt hatten«. Catherine Merridale zitiert aus einem Bericht, über die Kontrolle durch die Schweizer Zollbeamten. »Wie sich herausstellte, gab es eine Kriegsvorschrift über die Ausfuhr von Speisen aus der Schweiz. Käse und Wurst wurden in solchen Mengen nicht geduldet, hartgekochte Eier ebenso wenig. Es war schockierend, zusehen zu müssen, wie ein ganzer Wochenvorrat an Nahrungsmitteln beschlagnahmt wurde.« Egal, welche der Versionen zutrifft, an das Essen im Trelleborger Hotel erinnern sich alle, auch an das in Deutschland kredenzte Bier. Erwähnt seien Grigori Sinow-jews Bemerkungen über David Rjasanow, der Lenin die Reise ausreden wollte, und Radeks Anekdote über den abwesenden Nikolai Bucharin, »der als Kenner der Grenznutzentheorie die Rauchertalons kenntnisreicher verteilt hätte als Lenin«.

Catherine Merridale kann Kenntnis der sowjetischen »Leniniana« und der Archivsituation in Russland bescheinigt werden. Umso bedauerlicher, dass sie - anders als im Falle ihrer die englische Fachliteratur betreffenden quellengesättigten Ausführungen - hinsichtlich der sowjetischen Literatur ausschließlich auf die nachweislich frisierten, 1979 in erschienenen fünf Bände »Erinnerungen an Lenin« zurückgreift. Folgt man dieser Edition, hat Lenin auf der ganzen Fahrt nichts gegessen, nur Tee getrunken, bei den Aufenthalten in Karlsruhe und Frankfurt gekaufte Zeitungen gelesen und programmatische Artikel geschrieben. Der 1925 in der Sowjetunion veröffentlichte und 1999 neu aufgelegte Reisebericht von Fritz Platten (der nicht 1942 in einem Lager verstarb, sondern ausgerechnet an Lenins Geburtstag erschossen wurde) ist da aufschlussreicher.

Auch in Hinblick auf Radek sind die Angaben im Buch von Catherine Merridale korrekturbedürftig. Bernd Rullkötter, der die Übersetzung aus dem Englischen besorgte, hat leider darauf verzichtet, auf die in der DDR erschienenen Werk- bzw. Briefausgaben von Rosa Luxemburg, Josef Stalin oder Wladimir I. Lenin zwecks Zitatgenauigkeit zurückzugreifen. Dadurch haben sich Fehler eingeschlichen. Leider sind auch die im Schlusskapitel über das Schicksal von Lenins Weggefährten enthaltenen Angaben lückenhaft. Verdienstvoll sind die aufgenommenen Polemiken gegen die von Dmitri Wolkogonow verbreiteten Legenden über das »deutsche Gold« und die Bemerkungen über das heute in Russland propagierte, die Geschichte der Romanow-Dynastie reaktivierende Geschichtsbild.

Catherine Merridale: Lenins Zug. Die Reise in die Revolution. S. Fischer. 384 S., geb., 25 €.

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