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Unschuld und Sühne

Am Deutschen Theater Berlin inszenierte Dušan David Parízek »Amerika« nach Franz Kafkas Roman

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 4 Min.

Wie Marcel Kohler im viel zu engen knallroten Livree am Boden kniet, das hat Wucht. Mit steinerner Miene, deren Melancholie in den Saal drückt, kauert der baumhohe Schauspieler in der Rolle eines 16-Jährigen an der Rampe und schweigt reglos, während ihm im Rücken der Prozess gemacht wird. Jedes weitere Wort der Verteidigung, weiß dieser Junge mit Namen Karl Roßmann, wäre zwecklos. Das Urteil über ihn wurde von höheren Mächten längst gesprochen. Die höheren Mächte, das sind hier: Ulrich Matthes, der gestrenge Oberkellner des New Yorker Luxushotels, in dem Roßmann sich bis zum Moment seiner Kündigung als Liftboy verdingte. Der respektheischende Oberportier Frank Seppeler. Und Regine Zimmermann, die Oberköchin, die es anfangs so gut mit dem Neuen meinte. Allesamt einen oder zwei Köpfe kleiner als Karl. Aber schon das Ober- im Titel macht sie unbezwingbar. Karls unverzeihliches Vergehen: Er hat während Dienstes einen betrunkenen Landstreicher (Edgar Eckert), der ihn zuvor um Hab und Gut gebracht hatte, aus Angst und Mitleid im Schlafsaal einquartiert.

Dušan David Pařízek hat im Deutschen Theater Berlin Franz Kafkas Roman »Der Verschollene« auf die Bühne gestellt, unter dem Titel, den Herausgeber Max Brod dem Fragment gebliebenen Buch 1927 bei seiner postumen Erstveröffentlichung gab: »Amerika«. Hierher, ins Land der Träume, schicken Karls Eltern den Jungen aus Prag, nachdem er daheim, in all seiner Naivität verführt, ein doppelt so altes Dienstmädchen geschwängert hat. Doch die Hoffnungen auf ein neues Leben bröckeln so rasch, wie der Putz von einer Fassade bröckelt, auf die man mit dem Fäustel drischt. Die unbegrenzten Möglichkeiten, wie sollte es bei Kafka anders sein, entpuppen sich mit jeder Begegnung ärger als begrenzte Unmöglichkeiten. Am Ende steht der Jüngling, der aufrecht und in feinem Zwirn am Hafen von New York angekommen war, nackt da, gebeugt und mit blutverschmiertem Antlitz. Obwohl er sich nichts, aber auch gar nichts, zuschulden kommen ließ und in jeder noch so erniedrigenden Situation höflich, zuvorkommend und hart gegen sich selbst geblieben war.

Statt den Neuankömmling im flirrenden Rausch der Geschwindigkeit zu versenken, blättert Pařízek ein karges Bühnenbild auf. Der Schiffsbug: zwei schwarze Wände im rechten Winkel, der aufs Publikum zuläuft. Das Apartment des reichen Onkels: zwei vertäfelte Wände im rechten Winkel zum Bühnenraum hin. Das Hotel, in dem Karl anheuert, nachdem der Onkel ihn rausgeworfen und die Kumpane von der Straße ihn übers Ohr gehauen haben: weitere Wände, die im Zickzack rechtwinklig aneinander stehen, sodass ihnen nicht zu entkommen ist. Das spärliche Interieur dieser Raum gewordenen Ausweglosigkeit wird mit zwei Overheadprojektoren von den Bühnenrändern her an die Wände geworfen: Tisch und Stuhl, auf den zu setzen sich Karl vergeblich müht. Ein Erinnerungsfoto. Einmal kurz eine Seite aus Kafkas Skript. Im Lichtschein der Projektoren werfen auch die Menschen, die Karls Wege auf der Bühne kreuzen, um ihm stets eine neue Aussicht auf Glück zu verheißen, Schatten. Als wären ihre Silhouetten schon Vorboten der dann mit kafkaesker Zwangsläufigkeit folgenden perfiden Verleumdung, der unberechenbaren Wende, des unvermeidlichen Betrugs, des Missbrauchs, der sich als Recht ausgibt.

Regisseur Pařízek hätte die Prüfung mit 1 bestanden, wäre seine Inszenierung Ergebnis der Schulaufgabe, Kafka mit den Mitteln des Theaters und im Sinne des Lehrplans zu interpretieren. In welchem Verhältnis seine Arbeit aber zum DT-Spielzeit-Motto »Welche Zukunft« steht, welche Denkaufgaben sie dem Zuschauern mit hinaus in die Gegenwart gibt, welche Saiten sie anschlagen will im Resonanzraum seiner Seele, das bleibt offen. Gänzlich deplatziert, weil ohne Anknüpfungspunkt an den Rest des Stücks, wirkt eine beiläufige Anspielung an Trump - eine pflichtschuldige Geste.

Die Schauspieler brauchen einige Anlaufzeit, um ihre Lust am Theater freizulassen; in den ersten Szenen wirkt alles ein wenig wie aus Papier. Kohler spielt Karl, die anderen vier schlüpfen in mehrere Rollen. Regine Zimmermann in sämtlichen Frauenrollen zu besetzen, so unterschiedlich die Charaktere auch sind, war indes eine doppelt gute Idee: Im Sinne der Schulaufgabe wirft sie ein Lichtschein auf Kafkas problematische Beziehung zum Weiblichen. Im Sinne des Theaters eröffnet sie Zimmermann die Gelegenheit, binnen Minuten ihre enorme Wandlungsfähigkeit vorzuführen.

Am Ende fallen die Wände, und die Bühne öffnet sich doch noch hin zum Reich der Träume. Im Naturtheater von Oklahoma, das nur heute - und nur bis Mitternacht! - ausnahmslos jeden anstellt, findet Karl Roßmann Aufnahme. Das schräge Ensemble dieses fragwürdigen Paradieses räkelt sich in Glitzerwäsche und mit weißen Engelsperücken unter einer Batterie aus Scheinwerfern. Allen voran Ulrich Matthes mit stechendem Blick und garstiger Fresse im goldenen Kleid. »Suicide is painless« singen sie hier, in Wolkenkuckucksheim: Selbstmord tut nicht weh.

Nächste Vorstellungen am 1. und 7. Oktober

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