Abgehängt - und auch noch selbst schuld daran

Wissenschaftler: Neoliberale EU-Politik befördert ungleiche regionale Entwicklung in Europa / Zu den Folgen gehören »Abwanderungskultur« und politischer Rechtsruck

  • Hendrik Lasch, Leipzig
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Leuchtturm galt lange als Ideal für die regionale Entwicklung in Ostdeutschland. Als Leuchttürme galten Großbetriebe, die viele Jobs schaffen und Forschungseinrichtungen anziehen. So wie das Licht der Leuchttürme über das Wasser strahlt, sollten derlei industrielle Kerne in das Land leuchten. Die dort erwirtschafteten Gewinne sollten in weniger prosperierenden Regionen für Entwicklung sorgen.

Dieses Konzept ist gescheitert: »Es funktioniert leider nicht«, sagt Thilo Lang vom Leibnitz-Institut für Länderkunde in Leipzig. Forscher des Instituts haben seit 2014 gemeinsam mit Kollegen aus zwölf Ländern zur wachsenden Kluft in der Regionalentwicklung innerhalb der EU geforscht und jetzt bei einer Tagung in Leipzig Bilanz gezogen. Ihr Befund ist ernüchternd: Die derzeitig in Brüssel praktizierte Politik werde dazu führen, dass sich die regionale Ungleichheit immer weiter vertieft.

Die Wissenschaftler beobachten in der EU-Politik eine Verschiebung von Prioritäten. Strategische Dokumente wie die Lissabon-Agenda setzten weniger als früher auf soziale Aspekte, sondern immer stärker auf Innovation und Wettbewerbsfähigkeit. Diese werde vorrangig in Städten und Metropolen verortet. Ländliche Räume, denen es etwa an Infrastruktur fehle, würden in diesem neoliberalen Ansatz zu Verlierern gestempelt - und, wie es in einem Thesenpapier heißt, zu allem Überdruss auch noch »selbst dafür verantwortlich« gemacht, getreu der Devise: Wer im Wettbewerb um Investoren nicht mithalten kann, muss sich eben mehr strecken.

Die Folgen dieser Entwicklung sind höchst problematisch. Sie führt etwa zu verstärkter Migration; in manchen Regionen sei eine regelrechte »Abwanderungskultur« entstanden, sagt Lang. Vor allem junge Leute, darunter viele gut ausgebildete Frauen, ziehen weg. Diejenigen, die zurückbleiben, fühlten sich zunehmend abgehängt, vom Staat allein gelassen - und wendeten sich in ihrer Resignation oft rechtspopulistischen Parteien zu.

Die Wissenschaftler fordern angesichts dessen ein Umsteuern - ohne sich freilich allzu großen Illusionen hinzugeben. »Ich sehe nicht, dass in der näheren Zukunft vom neoliberalen Dogma abgerückt wird«, sagt der griechische Geograf Costis Hadjimichalis, der als Gastwissenschaftler in dem Projekt mitwirkte. Ohne diese Abkehr jedoch werde es keinen Richtungswechsel in der Regionalpolitik geben. Der finnische Forscher Tomas Hanell fordert, politische Entscheidungen an anderen Messgrößen als dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) auszurichten, das derzeit in der Beurteilung regionaler Entwicklung als das Maß aller Dinge gelte. Die EU-Politik orientiere sich an fünf »Leitindikatoren«, zu denen zwar auch die Beschäftigungsrate gehöre. Es frage aber niemand danach, »ob man seinen Job mag, ob man zu viel oder zu wenig arbeitet oder wie man mit dem Verdienst zufrieden ist«. Hanell würde regionale Entwicklung gern auch anhand von »Lebensqualitätsindikatoren« beurteilen - was womöglich dazu führe, dass der ländliche Raum wesentlich besser abschneide als jetzt.

Das wiederum würde auch gesellschaftliche Diskurse etwa in den Medien verschieben, sagt Lang - die derzeit eher »großstadtfreundlich« geführt würden, während der ländliche Raum »abgewertet« werde. Die Metropolen gelten als cool, das Dorf als verschnarcht, abgehängt und tot. Es wird vom »Landlust« lesenden Großstädter zwar gern besucht, aber nur, wenn es abends wieder heim geht.

Allerdings räumen die Forscher ein, dass allein Veränderungen in der statistischen Bewertung und dem Ansehen ländlicher Regionen nicht zu einer ausgewogeneren Entwicklung führen werden; diese bedarf handfester politischer Entscheidungen. Im Thesenpapier fordern sie, dass sich die Kohäsionspolitik der EU »wieder stärker auf eher traditionelle Felder wie Infrastruktur, Soziales und Umweltschutz konzentrieren« müsse. Sie empfehlen zudem, die Verwaltungen in den Regionen zu stärken, indem ihnen Budgets zur Verfügung gestellt werden, über die sie in eigener Verantwortung entscheiden können. Die ländlichen Regionen sollten stärker als »Innovationsräume« wahrgenommen werden, in denen etwa auch alternative ökonomische Ansätze erprobt werden könnten - die von der EU stärker gefördert werden sollten.

Ob die Ideen geeignet sind, die Abwärtsspirale in den ländlichen Räumen aufzuhalten, ist offen. Mancher in den EU-Hauptstädten wird sie als Geldverschwendung empfinden. Tomas Hanell allerdings gibt zu bedenken, es werde stets nur vorgerechnet, was Regionalpolitik koste: »Es fragt aber keiner, was die Kosten von Nicht-Regionalpolitik sind« - in sozialer, ökologischer, aber auch streng ökonomischer Sicht. In Finnland werde gerade eine neue Großstadt errichtet - für sehr viel Geld. Den künftigen Einwohnern das Leben auf dem Land annehmlicher zu gestalten, hätte weniger gekostet. Hanell hat für die Regierung Norwegens eine Studie zur Frage erarbeitet, ob es sich rechnet, eine weitere Urbanisierung zu fördern. Das Fazit, sagt Hanell: »Es ist günstiger, nicht zu konzentrieren.«

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