Vom Steppenwolf zum Glasperlenspieler

Hermann Hesse »Die Briefe 1924 - 1932«

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 7 Min.

Welch ein manischer Briefschreiber! Mehr als 40 000 Briefe verschickte Hermann Hesse in seinem langem Leben. Kein Wunder, dass er dabei lernte, so genau aufs Porto zu schauen. Briefe aus der Schweiz nach Deutschland gab er stapelweise Besuchern mit, die sie dann - zum Inlandsporto - hinter der Grenze einwarfen.

Da er früh berühmt wurde, ist das meiste von seiner Korrespondenz erhalten - und immer noch tauchen neue Briefe auf. Wenn jeder von ihnen nur den Umfang von zwei Druckseiten einnähme, dann käme man bei 1000 Druckseiten pro Band auf etwa 80 Briefbände. Allein der noch unveröffentlichte Briefwechsel mit seinem jüngsten Sohn Martin umfasst 960 Seiten!

An dieser Briefflut muss eigentlich jeder Herausgeber verzweifeln. Es sei denn, er heißt Volker Michels. Dieser lenkt die Hesse-Angelegenheiten bei Suhrkamp seit mehr als vier Jahrzehnten und hat immer noch Energie genug, den nunmehr dritten Anlauf zu einer Hermann-Hesse-Briefedition zu unternehmen. Es gibt - neben den zahlreichen erschienenen Einzelbriefwechseln etwa mit Peter Weiss, Romain Rolland, Stefan Zweig, seinem Psychoanalytiker Peter Lang, der zweiten Ehefrau Ruth Wenger, der dritten Ninon Dolbin und vielen anderen - auch die »Ausgewählten Briefe« und die vierbändigen »Briefe«.

Nun also eine auf zehn Bände angelegte Ausgabe unter dem Titel »Die Briefe«. Auch diesmal wieder keine vollständige historisch-kritische Ausgabe, das ist im Falle Hesses wohl auch nicht zu leisten, zumindest nicht von einem Einzelherausgeber und nicht in der Geschwindigkeit, mit der diese Briefausgabe erscheint: pro Jahr ein Band! Was viel wichtiger ist, die von Michels ausgewählten Briefe aller bisherigen vier Bände lesen sich als eine hochdramatische Lebenserzählung. Leider enthalten sie immer wieder Auslassungen, die man als Leser nicht recht deuten kann. Warum wurde hier etwas weggelassen? Hesse ist wie kein Zweiter ein Chronist seiner Lebenskrisen, die zum Stoff seines dichterischen Werks werden.

Im zuletzt erschienenen Band »Die Briefe 1924 - 1932« wird dies auf besonders drastische Weise deutlich. Es sind die Steppenwolfjahre! Der hochphilosophische »Siddhartha« liegt hinter ihm, aber was liegt vor ihm? An Ernst Morgenthaler schreibt er im August 1926: »Wir Steppenwölfe sollten unsere Selbstmordversuche kräftiger zu Ende führen, die Welt kann uns doch nicht brauchen.« 1918 hatte Hesse seine erste Ehefrau Maria Bernoulli und seine drei Söhne in Bern zurückgelassen und war über die Alpen Richtung Süden gezogen, ins Tessin nach Montagnola. Ein Neuanfang ganz ohne Ballast sollte es werden.

Er wohnt in einem alten Palazzo, der Casa Camuzzi - im Sommer ist es hier arkadienhaft schön, im Winter verwandelt sich die nicht heizbare Wohnung in einen Eiskeller. Er friert, ist allein, hat Schuldgefühle. Depressionen stellen sich ein, immer häufiger denkt er an Selbstmord.

Dann kommt eine junge Frau, Ruth Wenger, und für kurze Zeit ist er wie berauscht. Aber sie kann ihm keine Partnerin sein, sie heiraten zwar nach Hesses Scheidung von Maria Bernoulli, leben aber nie zusammen. Die kalten Winter haben Hesse Rheuma, Ischias-Beschwerden und Gicht beschert, oft kann er die Finger nicht mehr bewegen - er fühlt sich plötzlich sehr alt und wird regelmäßiger Kurgast in Baden. Die Winter, bald halbe Jahre, verbringt er nun in Zürich. Hier probt der notorische Großstadtverächter das leichte Leben, das dem Pietisten-Sohn immer mit Sünde belastet schien. Aber mit seinem Herkommen hat er lange schon gebrochen. Doch was sein erster Biograf Hugo Ball als Nachholen »versäumter Tierheit« bezeichnet, ist nur die eine Seite dieses »letzten Ritters aus dem glanzvollen Zug der Romantik« (Ball). Er hat inzwischen die Schweizer Staatsbürgerschaft erhalten, fühlt sich jedoch als »Alemanne«, einer, der in kein bestehendes Staatswesen passt, am wenigsten nach Deutschland, wo die nationalistische Presse ihn wegen seiner pazifistischen Positionen hartnäckig attackiert.

Hesse fühlt sich als völliger Außenseiter der bürgerlichen Ordnung - wie sein Alter Ego Harry Haller, der Steppenwolf. Davon lesen wir in einem Brief, den er am 3. Januar 1927 nach Leipzig an Heinrich Wiegand schickt (wenige Jahre später muss der vor den Nazis emigrieren und stirbt bereits 1934 in Italien). Darin heißt es: »Ich schreibe gerade den ›Steppenwolf‹, in Prosa, zu Ende und ins Reine, nach 2-jähriger Arbeit, habe aber keine Freude mehr daran, habe hier auch keinen Freund zur Hand, dem ich einmal die paar witzigeren Stellen daraus vorlesen könnte, ich habe nur die nackte Arbeit, das Hinunterwürgen, den Kampf mit der dummen Schreibmaschine etc. etc., es ist zum Kotzen.«

Mit der Welt verkehrt er jetzt am liebsten schriftlich. Aber die Briefe zeigen eben auch den Lebenshunger des fast Fünfzigjährigen, der sich gern als potenziellen Selbstmörder beschreibt. Doch nur schreiben und an den Tod denken, das will er, in dem immer ein Hysteriker auf dem Sprung sitzt, auch nicht. Über das Cabaret Voltaire besucht er nun Abendveranstaltungen, die seine Eltern als Vorposten der Hölle angesehen hätten. Maskenbälle! Hesse selbst nennt es ein »Luderleben«, das er da in Zürich führt, wo er »nichts gearbeitet, täglich viel gesoffen, und außerdem getanzt« habe.

In einem Brief aus dem Februar 1926 bekennt er: »Ich habe am Fasching sämtliche Bälle Zürichs bis zum lichten Morgen mit meiner Gegenwart beehrt, mich in diverse schöne Frauen verliebt, deren kostümierte Fotografien in meiner Bude hängen, und mich überhaupt sehr darum bemüht, aus dem verbissenen Einsiedler Hesse ein gutes dummes und etwas vergnügtes Vieh zu machen, und es ist gar nicht schlecht geglückt. Der Gicht hat es nicht gut getan, die gedeiht wieder, aber sonst war es gut, und getanzt habe ich den Foxtrott trotz Gicht, etc. ohne Unterlass.«

Man kann - und sollte - diese Briefe als einen großen Lebensroman lesen. Hesse zeigt sich darin ebenso als schonungsloser Bekenner wie als witziger Unterhalter. Als genauer Beobachter seiner Zeit ebenso wie als hinwendungsvoller Zuhörer der Lebensnöte seiner Freunde und sogar ihm persönlich unbekannter Leser. Aber bitte schriftlich! Wenn Hesse etwas gar nicht erträgt, dann sind das unangemeldete Besuche, die Nähe anderer Menschen bleibt ein lebenslanges Problem für ihn. Und schließlich ist er, auch wenn er sich gerade sehr als Steppenwolf fühlt, keine Attraktion, die jeder wie im Zirkus persönlich in Augenschein nehmen darf.

Die Lebenskrise sitzt tief - und sie geht nicht weg. Wahlweise überlegt Hesse, sich umzubringen - oder sollte er doch einmal nach Paris gehen, »wenigstens versuchsweise«? Aber dann taucht eine Frau auf, Ninon Dolbin, die fühlt sich dazu berufen, den zumeist unliebenswürdigen Dichter zu retten. Ninon Dolbin! Sie schrieb schon als Vierzehnjährige als Ninon Ausländer aus Czernowitz in der Bukowina regelrechte Fanbriefe an Hesse. Nun lässt er sich gerade von seiner zweiten Frau Ruth Wenger scheiden, genauer: sie sich von ihm. Also braucht sie sich selbst ebenfalls nur noch scheiden zu lassen, dann wären sie doch das perfekte Paar!

Hesse wehrt sich mit allen Kräften gegen die Eroberungspläne Ninons, was ihm jetzt noch fehlt zu seinem ewigen Unglück, ist eine neue Ehe! Auf seine drastische Art versucht er, sie im Juni 1926 wieder auf Distanz zu bringen: Briefe »voll Klage, Anklage, Vorwurf und Eifersucht will ich nicht mehr lesen, sonst hänge ich mich ein Jahr früher auf als ich es ohnehin getan hätte«. Aber - man muss es so bündig sagen - sie ist stärker. Er versucht, das Unheil zu begrenzen, indem er akribisch Regeln des Zusammenlebens aufstellt (»Hausbriefe« etwa, um nicht ohne Voranmeldung miteinander sprechen zum müssen), aber natürlich wird er sie, die sich nun energisch ihr großes Idol erobert und jedes seiner Bücher fast auswendig kennt (immerhin!), enttäuschen müssen. Er enttäuscht sich ja selber auch fortwährend.

Doch er kann Ninons Hilfe im Alltag auch schätzen, vor allem, da seine Augen immer schlechter werden, der passionierte Leser vor Schmerzen nicht weiß, was er noch dagegen tun soll. Operationen und Brillen halfen nichts. Nun also liest ihm Ninon vor - täglich mindestens zwei Stunden! Das Leben wird für Hesse wieder bürgerlich, mit Köchin und Zimmermädchen - wenn Ninon sie nur nicht mit ihrem großbürgerlich Czernowitzer Herrschaftston so schnell wieder vertreiben würde. Die Schweizer Haushaltshilfen lassen sich nie lange als Dienstboten herumkommandieren.

Hesse, im goldenen Käfig seiner neu gebauten bequemen Casa Rossa in Montagnola, emigriert derweil in ein neues großes - sein letztes - Projekt, in dem sich der späte Romantiker zum Klassiker wendet: das »Glasperlenspiel«. Er hängt sich auch nicht auf, sondern bekommt den Nobelpreis und wird fünfundachtzig Jahre alt.

Hermann Hesse: Die Briefe. Band 4. Suhrkamp, 751 S., geb., 48 €.

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