Virtuelles Gedächtnis

Netzwoche

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

Die gute Nachricht vorweg: Der Fall einer Vierjährigen, die Opfer eines sexuellen Gewaltverbrechens wurde, ist aufgeklärt. Das Bundeskriminalamt (BKA) und die Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft konnten einen Verdächtigen festnehmen. Zuvor hatten sie in den Online-Medien mit Fotos des Mädchens, das Ermittler im Darknet gefunden hatten, nach dem Täter gefahndet. Staatsanwaltschaft und das BKA hatten sich zu diesem Schritt entschieden, weil es keine Video- oder Bildaufnahmen des Täters gab und sie befürchteten, dass das Kind weiter in der Hand des Gewalttäters ist. Bereits einige Stunden nach der Veröffentlichung der Fotos war die Fahndung erfolgreich. Danach baten die Behörden, das Bild des Mädchens zu löschen.

Die zweite gute Nachricht ist: Das hat auch gut funktioniert. Selbst die »Bild«, die für gewöhnlich beim Thema Persönlichkeitsrechte Probleme mit den Regeln des Presserechts hat, löschte das Bild des Mädchens aus seinem Online-Auftritt. Natürlich berichtet das Boulevardblatt weiter über den Fall und bedient sich dabei auch aus den sozialen Medien mit Bildmaterial, das offensichtlich von privaten Seiten des mutmaßlichen Täters bzw. seines Umfelds stammt. Immerhin: Die Gesichter des Mannes und seiner Lebensgefährtin (die Mutter des Opfers) sind verpixelt und im Text wird der Festgenommene als »mutmaßlicher Kinderschänder« bezeichnet. Das ist schon bemerkenswert, denn den Zusatz »mutmaßlich« lässt »Bild« bei der Berichterstattung über derart emotional aufwühlende Kriminalfälle in der Regel weg. Andere Zeitungen haben das Bild des Mädchens ebenfalls gelöscht, zeigen eine verpixelte Aufnahme oder haben es durch ein Symbolbild ersetzt. Manche Medien haben auch den dazugehörigen Fahndungsaufruf entfernt.

Die weniger gute Nachricht ist: Im Zeitalter des Internet ist die endgültige Tilgung eines Fotos schwer möglich. Wer auf Google die Wörter »Mädchen«, »Fahndung«, »Missbrauch« eingibt und die Bildersuche startet, findet das Foto des Mädchens noch dutzendfach zumindest im Zwischenspeicher (Cache). Spiegel.de gegenüber erklärte Google, dass es in solchen Fällen für die Webseitenbetreiber die Option gebe, eine schnellere Löschung des Cache beim Konzern zu beantragen, doch auch dies verspreche keine hundertprozentige Erfolgsquote. Gleiches gilt für Facebook. Gab man dort am Mittwoch, einen Tag nach der Festnahme des mutmaßlichen Täters, in der Suchleiste den Begriff »Fahndung« ein, erschienen in der Trefferliste ganz oben drei Links zu Artikeln auf welt.de: zwei mit einem Symbolbild über die Festnahme des Verdächtigen, eines aber mit einem Bild des Mädchens zum Fahndungsaufruf vom Montag; der Fahndungsaufruf selbst ist allerdings mit einem Symbolbild illustriert.

Das Problem ist: Das Bild der Vierjährigen hat sich längst über die sozialen Netzwerke, auf den privaten Kanälen von Twitter und Facebook verbreitet. Manche Nutzer haben den Löschaufruf möglicherweise gar nicht mitbekommen und nicht wenige verbreiten das Bild mit der Absicht weiter, damit die virtuelle Lynchstimmung gegen den mutmaßlichen Täter anzuheizen.

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