Heimstatt für die Brüder der Landstraße

Vor 125 Jahren gründete Bodelschwingh die erste deutsche Arbeiterkolonie

  • Holger Spierig, Bielefeld
  • Lesedauer: 3 Min.
An sein Leben auf der Straße denkt Wolfgang Hummel nur ungern zurück. Wenn manch einer romantische Abenteuergeschichten darüber erzähle, seien sie in der Regel erfunden, erklärt der 79-Jährige. Dass er 1956 in der Arbeiterkolonie Bethels gelandet sei, bezeichnet er immer noch als großes Glück. »Meine Sehnsucht war es, wieder anständig zu leben - hier habe ich das geschafft«, sagt er zufrieden, während er mit dem Pinsel seinem Gemälde eine neue Figur hinzufügt. Hummel hatte sich in den 50er Jahren aus seiner Thüringer Heimat »aus Neugier« in den Westen aufgemacht. Als der mittellos umherziehende Stellmacher zur Bethel-Kolonie Eckardtsheim kam, erhielt er nicht nur ein Dach über dem Kopf und regelmäßige Mahlzeiten. Als Tischler angestellt, reparierte er bald alles, was auf dem Gelände anfiel. Heute widmet sich der Rentner täglich seiner Malerei in einem Atelier des Bethel-Altersheims auf dem Koloniegelände. Am Sonntag wird die Gründung der ersten deutschen Arbeiterkolonie vor 125 Jahren bei Bielefeld mit einem Fest gefeiert. Bethel-Leiter Friedrich von Bodelschwingh wollte der wachsenden Not der heimat- und arbeitslos umherziehenden Wanderarbeiter am Ende des 19. Jahrhunderts nicht tatenlos zusehen. Arbeitslose Wanderer, die an seine Tür klopften, müsse er wieder fortschicken, solange sie nicht epilepsiekrank seien, soll Bodelschwingh beklagt haben. Denn bis zu diesem Zeitpunkt waren die von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel nur auf behinderte und epilepsiekranke Menschen ausgerichtet. Bodelschwingh erwarb deshalb in dem abgelegenen und armen Landstrich in der Senne bei Bielefeld zunächst drei Höfe. Am 22. März 1882 richtete eine Gruppe arbeitsfähiger epilepsiekranker Männer aus Bethel die Höfe als Heimstatt und Arbeitsplatz für die »Brüder der Landstraße« her. Im August konnte der Bethel-Ableger »Wilhelmsdorf« feierlich eingeweiht werden. Für eine Mahlzeit und geringen Lohn verwandelten die »Kolonisten« fortan den sandigen Boden der Senne in eine landwirtschaftliche Nutzfläche, die schon bald nicht nur die Kolonie, sondern auch die Hauptstelle in Bethel versorgte. Mit der um 1900 in Eckardtsheim umgetauften Arbeiterkolonie schuf Bodelschwingh ein Modell, das deutschlandweit an vielen Orten nachgeahmt wurde. Der christliche Sozialvisionär brachte 1907 auch als Abgeordneter im Preußischen Landtag ein Wanderarbeitsstättengesetz auf den Weg. Damit sei Bodelschwingh zu einem »Wegbereiter des Wohlfahrtsstaates« geworden, bilanziert der Bielefelder Historiker Hans-Walter Schmuhl. Eckardtsheim blieb jedoch nicht allein Arbeiterkolonie. Bereits nach wenigen Jahren wurden neue Arbeitsbereiche wie die Betreuung von Epilepsiekranken und Alkoholikern angesiedelt sowie die Fürsorge-Erziehung von Jugendlichen. Wenige Kilometer von der Hauptstelle entfernt entstand so eine Art Abbild Bethels im verkleinerten Maßstab. Von 1960 bis 2001 war die Ortschaft offiziell Teilanstalt Bethels mit einer eigenen Verwaltung. Die Arbeiterkolonie wurde Ende der 90er Jahre offiziell zu Gunsten von ambulanten Betreuungsangeboten aufgegeben. Heute sei Eckardtsheim ein Dorf mit Zukunft, erklärt der Ortschaftsbeauftragte Horst Lange, ein von Bethel eingesetzter »Bürgermeister« für die Ortschaft. Von den rund 2200 Eckardtsheimern sind derzeit rund 1700 Patienten und Mitarbeiter, rund 500 sind zugezogene Einwohner. epd
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