Als etwas Großes begann

Christan Bangel fängt das Lebensgefühl nach dem Epochenwechsel von 1989/90 ein

  • Henry-Martin Klemt
  • Lesedauer: 5 Min.

Warum schlagen die ihn nicht tot? Sie können doch wirklich nicht mehr glauben, dass er schläft. Auch wenn er so tut. Warum schlagen die Nazis ihn nicht? Sie schlagen doch sonst immer. Freier kann sich das nicht erklären. Er schleppt sich halbtot und unverletzt mit seiner Angst aus dem Regionalzug. Die hängt ihm an, verfolgt ihn an alle Stationen des Debütromans von Christian Bangel.

Dabei hat der 1979 geborene Autor seinem Held eine Leichtfüßigkeit mit auf den Weg gegeben, von der sich zuweilen schwer sagen lässt, ob sie schelmenhaft ist oder daher kommt, dass so ein Frankfurter von der Oder mit Anfang zwanzig immer mal neben sich steht und immer mal neben der Welt, ohne dass es ihm grundsätzlich etwas ausmachte. Es ist das Lebensgefühl vieler nach dem Epochenbruch, für den der Protagonist in »Oder Florida« zu jung ist, um in den Strudel der Vergangenheit gerissen zu werden, und alt genug, sich auf den Weg zu machen, denn wenn jeder seins machen kann, fängt etwas Großes an. Muss doch. Oder nicht?

Von diesem Gefühl der Freiheit lebt das Buch, auch und gerade, wenn Freier an deren Grenzen stößt. Aus dieser Perspektive bleibt klein, was vermickert und piefig ist. Der Rest kann wachsen: das Absurde, Liebevolle, Anhängliche, das Kluge und das Tolpatschige. Bangel lässt nichts davon aus. Er schreibt wie einer, der das schon immer mal erzählen wollte. Nicht erklären, nicht einmal ordnen, nur orten. Er findet seinen Ton, der in eins geht mit seiner Geschichte.

Wer die Stadt kennt - nicht nur als medieninszenierte Tristesse, die so beliebt war, weil man aus den Hauptstadtredaktionen nur eine Stunde dorthin braucht -, der kann sein (durchaus fragwürdiges) Vergnügen daran finden. Bangel steckt zuweilen zwei, drei oder vier Personen in eine Haut, um die Personage, nicht aber den Ball, flach zu halten. Trotzdem gelingen ihm Charaktere, keine Karikaturen, weil dem Autor jeder Reiz am Denunziatorischen abgeht. Jedes falsche Mitleid auch. Und für das Echte hat er erst einmal keine Zeit.

Schließlich plant Freier mit seinem besten Kumpel Fliege gerade die feindliche Übernahme der SPD. Nicht Spielball der Politik wollen sie sein. Umgekehrt soll es funktionieren. Wenn man eine Zeitung dazu braucht, gibt man eine heraus. Wenn man eines Kandidaten bedarf, sucht man sich einen. Am Horizont flackert das Modem, aufgehende Sonne eines neuen Zeitalters. Durch die Stadt ziehen Fähnchenträger und demonstrieren für besseres Wetter. In der alten Fabrik kreist der Joint. Und beim Obernazi der Stadt, dessen Gesicht niemand kennt, lernen die Faschisten von Gramsci die Graswurzelrevolution, wie man Bäumchen pflanzt und im Seniorenheim die Alten mit dem Schlesierlied erfreut. Bevor man Freier krankenhausreif prügelt. Was muss er sie auch provozieren?

Der Spitzenkandidat Franziskus, Abziehbild eines Heiligen und Neoliberaler im Hosentaschenformat, der weniger Demokraten im Sinn hat als Arbeitssklaven. Nadja, die auf der Bildfläche erscheint und nicht mehr verschwinden will, obwohl sie nicht da ist die meiste Zeit. Berlin, Höllenhimmel der Neunziger, und auf dem Baukran eine romantische Stunde zwischen Hund und Wolf, bevor es nach Hamburg geht, hoffnungsfroh dem Reichtum entgegen, und aus Freier wird Udo - Unser Doofer Ossi. Bevor die Rätsel sich aufzulösen beginnen und das Tempo der Geschichte sich steigert, manchmal atemlos wird, der Rhythmus ins Stakkato fällt.

Es ist ein Balanceakt, auf den Bangel sich einlässt, sicher auch kraft seiner journalistischen Erfahrung. Er lässt seinen Protagonisten beide deutsche Kulturen wahrnehmen, in ihrer Normalität wie in ihren Auswüchsen, ohne die Fremdheit zum Stigma werden zu lassen. Er lauscht der eigenen Geschichte nach, er weiß um die Narben der Väter, die auf der Haut der Söhne sichtbar werden, aber sinnt nicht auf Rache, er kennt - wie er selber sagt - die Wände aus Papier und die Türen, die nur aufgemalt sind. Sein Held ist Handelnder und Ausgelieferter zugleich. Wo landet so einer am Schluss?

»Oder Florida« ist nicht nur als Debüt ein bemerkenswerter Roman. Es ist weder ein Ostbuch noch ein Westbuch. Zum Glück ist es auch kein Frankfurtbuch, obwohl die Stadt in jüngerer Zeit wohl nirgendwo so präzise beschrieben wurde. Das Buch will nicht Partei sein im Zwist um die Deutungshoheit. Es will sich keinem anempfehlen, sondern einfach nur wahrgenommen werden. Andere gehen dafür auf die Straße. Bangel schreibt sein Buch. Beim Lesen ist es irgendwann einfach zu schnell zu Ende. Danach fasst sich der Westen ein bisschen anders an und der Osten auch, die Vergangenheit und die Gegenwart. Und dem Älteren erscheint der Jüngere etwas klarer in seinem Frohsinn und in seiner Not.

Bangel lässt sich tragen von seiner Freude an der Sprache, von seiner Neugier und nimmt den Leser dabei mit, wenn der sich darauf einlässt. Bangel komponiert, dramatisiert mit Begeisterung und nimmt alles ernst, auch das Nebensächlichste. »Eine Zeit«, schreibt Bangel, »in der aus den Ängsten von heute die Ängste von gestern werden, in der man plötzlich die Katzen in Hinterhöfen plärren hört, weil man fühlt, dass aus allen kleinen Dingen was Gutes werden kann. Eine Zeit, in der man nachts das Fenster öffnet, weil man hören will, was draußen los ist, weil man nichts verpassen will von dem, was jetzt geschehen wird.«

Christian Bangel: Oder Florida. Roman. Piper, 352 S., geb., 18 €.

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