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Illegale Tests an 3500 Probanden

Ausmaß von Medikamentenversuchen in Schleswig scheint größer als bisher angenommen

  • Dieter Hanisch, Schleswig
  • Lesedauer: 3 Min.

Das Ausmaß von illegalen Medikamentenversuchen, die über viele Jahre an Heimkindern und psychisch kranken Erwachsenen in Schleswig vorgenommen wurden, scheint weitaus größer zu sein als angenommen. Vor einem Jahr wurden solche Pharma-Versuchsreihen aus den 1950er bis 1970er Jahren erstmals öffentlich bekannt. Die Aufarbeitung kann sich noch lange hinziehen. Schleswig-Holsteins Sozialminister Heiner Garg hat sich nun im Namen der Landesregierung bei den Betroffenen für das Geschehene entschuldigt. Der FDP-Minister: »Der Staat hat damals versagt.«

Es war die Pharmazeutin Sylvia Wagner aus Krefeld, die im Vorjahr die Ungeheuerlichkeiten als erste aufdeckte. Anhand von Recherchen in historischen Fachzeitschriften, in denen damals beteiligte Mediziner ihre Erkenntnisse veröffentlichten, ermittelte sie akribisch bis zu 50 praktizierte Versuchsreihen, zwei davon in Schleswig. Einwilligungen von Eltern oder gesetzlichen Vertretern lagen dabei nicht vor. Die Art und Weise der Versuchsdurchführung mache laut Wagner klar, dass es sich dabei keinesfalls um therapeutische Maßnahmen gehandelt hat.

Seit ersten Enthüllungen durch den NDR vor genau einem Jahr haben sich immer mehr ehemalige Bewohner aus zwei früheren Einrichtungen in der Stadt Schleswig gemeldet. Inzwischen liegen Unterlagen vor, denen zufolge offenbar an bis zu 3500 Probanden unerlaubte Arzneimitteltests vorgenommen wurden, darunter rund 1000 Kinder und Jugendliche. Wagner spricht von Menschenrechtsverletzungen. Strafrechtlich handelt es sich um Körperverletzungen, die mittlerweile aber verjährt sind.

Nach Jahrzehnten hat Franz W. aus dem Kreis Steinburg den Mut, über sein Martyrium zu reden. Man habe ihm Säfte und Tabletten verabreicht, ohne dass er sich krank gefühlt habe. »Du bist festgehalten worden, Nase zugehalten, Tablette rein.« Und W. berichtet, er sei anschließend nicht mehr Herr seiner Sinne gewesen. Auch für Alfred K. ist es bedrückend, über seinen Aufenthalt im ehemaligen Landeskrankenhaus Schleswig in der Kindheit zu reden. An den Namen des Medikaments, was er ständig einnehmen musste, erinnert er sich noch genau: Haloperidol. Mit diesem Mittel gegen Psychosen hat man offenbar nicht nur die Kinder ruhiggestellt, sondern diese auch als »Versuchskaninchen« missbraucht. Bei einer anderen Versuchsreihe in Schleswig ging es um den leistungssteigernden Wirkstoff Encephabol, ein Medikament, das noch heute bei Demenzerkrankten Anwendung findet.

Über gesundheitliche Folgen für die Betroffenen bis heute gibt es bislang nur Vermutungen, sie werden aber etwa von Neurologen nicht ausgeschlossen. Es ist auch deshalb schwer, Nachweise zu führen, weil die Patientenakten von früher längst vernichtet wurden.

Im Frühjahr wurde eine Anlaufstelle für Betroffene in Neumünster eröffnet. Dort können auch Anträge auf eine einmalige Entschädigung gestellt werden. Ein entsprechender bundesweiter Stiftungsfonds mit 288 Millionen Euro wurde eingerichtet, getragen wird er durch Bundes- und Landesmittel, hinzu kommen Gelder der Kirche. Im Einzelfall werden daraus 9000 Euro gezahlt, dazu bis zu 5000 Euro als Rentenersatzleistung.

Aus Sicht des Vereins ehemaliger Heimkinder ist dies in Anbetracht des erlittenen Leides viel zu gering. Und da ist noch ein Haken: Wer bereits als ehemaliges Heimkind zum Beispiel wegen sexuellen Missbrauchs eine Entschädigung erhalten hat, der soll in Sachen Medikamentenversuche leer ausgehen.

Aus bislang 221 eingegangenen Anfragen resultierten bisher 98 Anträge. Davon seien laut Sozialministerium 85 bewilligt worden. Zur weiteren Aufarbeitung des Themas soll nun eine vom Ministerium ausgeschriebene, auf zwei Jahre angelegte Studie beitragen, die sich das Land 100 000 Euro kosten lässt.

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