Der Bohemien und der Profit

Wie ist es zu schaffen, als Lebemensch Geld zu verdienen? Von Wolfgang M. Schmitt

  • Wolfgang M. Schmitt
  • Lesedauer: 6 Min.

Wie eiskalt ist dies Händchen, wenn ich’s halte, wird es warm«, sagt, nein, singt Rodolfo. Er hält Mimìs Hand, in der Künstler-WG friert es beinahe. Rodolfo hatte einige Takte zuvor in größter Not sogar das Manuskript seines Theaterstücks im Kamin verfeuert. »Ich finde dein Opus glänzend«, schwärmt sein Freund, der Philosoph, mit Blick auf die lodernde Flamme. Es sind solche Szenen, die nicht nur Giacomo Puccinis Oper »La Bohème« unsterblich machten, sondern die darüber hinaus für die Kulturfigur des Bohemiens klischeebildend sind.

Ob die Beatgeneration der 1950er Jahre oder alternative Künstlergruppen um 1968 - das Leben der Bohemiens des 19. Jahrhunderts bot ihnen vorgefertigte Schablonen, die man gern wieder aufgriff und variierte. Romantische Liebe in zugigen Dachkammern, zerknüllte Manuskriptseiten: »In Armut froh und heiter, darf ich mit reichen Händen Liebeshymnen verschwenden«, erläutert Dichter Rodolfo der schönen schwindsüchtigen Stickerin Mimì seine Arbeit. Mit Puder, Perücken und viel Plüsch schufen Generationen von Opernregisseuren hübsche Armutsbilder auf der Bühne, von denen sich das bürgerliche Publikum durchaus gerührt zeigte. Wären die Künstler reich, die Oper könnte nicht so schön traurig sein. Die Bohemiens und ihre Epigonen wiederum hatten zwar per definitionem wenig ökonomisches Kapital, dafür aber reichlich kulturelles, wie der Soziologe Pierre Bourdieu in seiner 1992 erstmals erschienen, bahnbrechenden Studie »Die Regeln der Kunst« festgestellt hat. Die Bohème dient in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Gegengesellschaft zur Bourgeoisie: Regel- und Konventionsbrüche in der Kunst sowie im Leben werden bewusst begangen, um sich auf dem Markt zu behaupten und zu stilisieren. Der Wunsch jedoch, außerhalb der Logik der bürgerlichen Ökonomie zu agieren, ließ sich nie völlig einlösen. Immer wieder nahm und nimmt der Kapitalismus die alternativen (Lebens-)Kunstentwürfe in sich auf oder korrumpiert die Künstler. Puccini deutet das nur an, wenn im letzten Akt der Philosoph stolz seine Beförderung verkündet: »Der König macht mich zum Minister.«

Dass als Bohemien der ökonomische Erfolg aber kein Hindernis, sondern anzustreben sei, davon ist ohnehin der Sachbuchautor und Unternehmer Tom Hodgkinson überzeugt. In seinem Ratgeber »Business für Bohemiens« will er erklären, wie man ein kreatives Leben führen und damit Geld verdienen kann. Wohl auch, damit man nicht frieren muss wie Rodolfo und Mimì. Der Londoner Autor ist seit den frühen 1990ern Herausgeber des »Idler«-Magazins, eine Jahreszeitschrift in ansprechender Aufmachung mit Fotos sowie kulturwissenschaftlichen und literarischen Essays; außerdem gründete er die »Idler Academy«, eine Art Kulturcafé. Es ist ein kleines erfolgreiches Unternehmen jenseits der Konzerne und des Mainstreams. Vorwiegend Initiatoren solcher ambitionierter Projekte adressiert Hodgkinson mit seinem Ratgeber. Reich werden könne man zwar nicht, aber gut leben und dabei seinen Leidenschaften nachgehen, verspricht er. Dazu müsse man jedoch ökonomische Vernunft walten lassen, Businesspläne und Websites erstellen, und man dürfe sich, was besonders wichtig ist, keinesfalls unter Wert verkaufen: »Profit zu machen, ist etwas Gutes. Es bedeutet, dass Sie dabei sind, ein tragfähiges Unternehmen aufzubauen, das viele Jahre überdauern, Menschen Jobs verschaffen und Freude verbreiten kann.« Wie die alten Bohemiens träumt auch Hodgkinson von Gegenwelten zur Herrschaft der Reichen mit ihrer zügellosen Wachstumsideologie, doch im Unterschied zu Puccinis Oper wird die Armut hier nicht verklärt, sondern problematisiert. Kein Geld zu haben, mache nicht produktiv, vielmehr werde so die Kreativität gehemmt.

»Business für Bohemiens« richtet sich weniger an Künstler, Schriftsteller, Musiker oder Philosophen - also nicht an die eigentlichen Produzenten von Inhalten - als eher an die Verwerter der Produkte: an Veranstalter, Kleinverleger oder Buchhändler. Sie bekommen in einem launigen Ton erklärt, was beim Schreiben von Rechnungen zu beachten ist oder woran gute Mitarbeiter zu erkennen sind. Hodgkinson geht es um die kreative Klasse, die der im Buch nicht erwähnte US-Ökonom Richard Florida 2002 in seiner Studie »The Rise of the Creative Class« porträtierte und die die Städte nicht nur kulturell bereichert.

Wirklich erhellend, weil desillusionierend ist das Kapitel über die Wirksamkeit der sozialen Medien wie Facebook und Twitter. Tatsächlich sind dies für Künstler, Journalisten und Autoren, aber auch für Verlage oder Kulturinstitutionen die am häufigsten frequentierten Vermarktungsplattformen. Ständig wollen die Profile mit neuem Content, was nicht immer Inhalt meint, gefüttert werden, doch Hodgkinson warnt vor Zeitverschwendung. Der Nutzen sei gering, das Schalten von gesponserten Posts ein Minusgeschäft, und man könne letztlich viel besser für seine Idee oder sein Geschäft werben, wenn man sich mit Leuten trifft, Flyer verteilt und Kulturveranstaltungen besucht. Hodgkinson erzählt eine bemerkenswerte Anekdote über die digitale Illusion: Als der Schauspieler Stephen Fry, dem damals auf Twitter mehr als fünf Millionen Nutzer folgten, einmal einen Veranstaltungshinweis von »The Idler« retweetete, befürchteten Hodgkinsons Bekannte einen Zusammenbruch der »Idler«-Homepage. Und würde das Team den Besucheranstürmen überhaupt gewachsen sein? Rasch stellte sich heraus, dass die Panik unbegründet war: Dank Frys Tweet verkaufte Hodgkinson ganze acht Tickets mehr. In gewisser Weise können die sozialen Medien sogar den Umsatz gefährden: Wollte früher jemand vor seinen Freunden den Eindruck erwecken, er möge »Idler« - unter britischen Bohemiens genießt »Idler« Kultstatus -, »hätte das bedeutet, dass er ein Buch, eine Zeitschrift oder eine Eintrittskarte zu einer unserer Veranstaltungen kaufen müsste. Doch seit es soziale Medien gibt, muss er nur noch «like» oder «retweet» anklicken, und die Sache ist erledigt.« Sich mit kulturellem Kapital zu schmücken, war nie leichter und nie billiger.

Viele Tipps in »Business für Bohemiens« sind allerdings entweder selbstverständlich, banal - ja, Steuerberater sind mitunter nützlich -, oder unbrauchbar, weil sie nur auf Hodgkinsons Geschäftsmodell zutreffen. Das größte Problem an diesem Ratgeber ist jedoch, dass jegliche Kritik der permanenten Selbstvermarktung und der Ökonomisierung von Kulturgütern fehlt, und stattdessen ein allzu simples Feindbild, nämlich das der herzlosen Großkonzerne, dazu dient, sich auch moralisch auf der richtigen Seite zu wähnen. Hodgkinson plädiert für eine liebreizende und gemütliche Wirtschaftswelt mit lauter kleinen netten Projekten, ohne sehen zu wollen, dass diese oft nur die Feigenblätter des Kapitalismus sind. Dieser blinde Fleck entsteht auch durch die unhistorische Verwendung der Bezeichnung Bohemien. Ein Blick in die literarische Vorlage zu Puccinis »Bohème« wäre hilfreich gewesen: In Henri Murgers Roman »Boheme. Szenen aus dem Pariser Leben« machen, ein Jahr nach Mimìs Tod, alle Bohemiens Karriere. Als Rodolfo vorschlägt, um der alten Zeiten willen, noch einmal in ihr ehemaliges Stammlokal zu gehen, entgegnet der Maler, er schwelge zwar gern in der Erinnerung, doch bitte in einem noblen Restaurant: »Ich liebe nur noch gute Sachen!« Für das, was Murger auf der letzten Seite seines Romans beschreibt, gibt es heute einen Begriff, der die Schattenseite der Bohème beschreibt: Gentrifizierung.

Tom Hodgkinson: Business für Bohemiens. Die Kunst, ein kreatives Leben zu führen und dabei Geld zu verdienen. Kein & Aber, 288 Seiten, 22 €.

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