Staubkorn auf unendlicher Bahn

Glückwunsch für eine Legende: 50 Jahre »Poesiealbum«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein Gedicht ist kein Atlas, also nicht verpflichtet, das Himmelsgewölbe zu tragen. Unter diesem Aspekt darf Lyrik gleichsam als ein sehr entlastetes Wesen gelten. Trotzdem: Wie ein Jeder, so träumt auch jedes Gedicht den Höhenflug. Träumt, gering zu sein und doch Großes zu bewirken. Es ist der Traum des herabwirbelnden Laubblatts: beim sanften Landen auf der Erde unerwartet eine Explosion auszulösen. Gedichte, lauter Kleinwesen, können dies Wunder vollbringen - wenn sie uns in die Seele fallen, schweben. Man glaubt gar nicht, was man alles nicht benötigt, um ins Entscheidende zu gelangen. Was also zählt? Das »Poesiealbum« weiß es: »Keinen verderben lassen, auch nicht sich selber/ Jeden mit Glück zu erfüllen, auch sich, das/ Ist gut.« Bertolt Brecht.

Mit Brecht begann sie, 1967: die Reihe »Poesiealbum«. Begründet vom Dichter Bernd Jentzsch. Herausgegeben im Verlag Neues Leben. Reihengestaltung: Peter Nagengast, in der Mitte der jeweils 32 Seiten eine Doppelseite Grafik. Verse für die Jackentasche. Geburt eines DDR-Kults. Es erschienen bis zum Ende des Staates 275 Hefte und fünfzehn Sonderausgaben. Man kaufte, sammelte, war in Erwartung.

Immer auch zeigte sich das Album als Werkstatt junger Poeten, da war naives Bekenntnis zum realen Leben, vorsichtig tastende Kritik, erste Weisheit von bleibendem Existenzschmerz; ein farbiger Märchenteppich der unbekümmerten Träume, durchsetzt mit dunklen Flecken erster kummervoller Erfahrungen. Doppelhefte gab es für Klassiker: Goethe und Schiller. Die mussten politisch überholt werden, also: Sonderausgabe auch für den vermeintlichen Klassiker der Klassiker - Hymnen auf Lenin.

»Poesiealbum« widerspiegelte zu DDR-Zeiten das hohe Niveau einer wahrlichen Volks-Kunst, nämlich für je 90 Pfennig (!) Poesie des Erbes und des Erdkreises - zugleich wurde die Reihe ein Spiegel zäher wie zehrender Konflikt-Beständigkeit zwischen herausgeberischem Freiheitsdrang und kulturpolitischen Drahtverhauen. Bernd Jentzsch, der später Ausreisende, stand so auch für die Konflikthärte eines mutigen Versuchs geistiger Grenzenlosigkeit - just im Verlag der Jugendorganisation FDJ. Geradezu sensationell subversiv: Thomas Brasch, Heft 89, mit Grafik von Einar Schleef. »Wie viele sind wir eigentlich noch./ War das nicht der mit der Jimi-Hendrix-Platte./ Jetzt soll er Ingenieur sein./ Jetzt trägt er einen Anzug und Krawatte./ Wir sind die Aufgeregten. Er ist der Satte.« 1975.

Zwischen 1991 und 2006 erzwang der Zeitenwechsel eine Pause. Nunmehr gibt der Märkische Verlag Wilhelmshorst die Reihe heraus. Rührig, robust, ritterlich zäh: Verlagsleiter Klaus-Peter Anders. Nicht Sachverwalter, sondern Seelenwalter dieser großartigen Edition, die nunmehr zweimonatlich erscheint. Nach Jentzsch wirkten Richard Pietraß und Dorothea Oehme als Herausgeber.

Wilhelmshorst? Dichtung zu Dichtung. Der Ort hat einen traurig mythischen Klang: Hier lebte Dichter Peter Huchel (1903 - 1981) gleichsam im SED-verordneten Exil. Wie unter Hausarrest. In die Wüste geschickt: wahrlich genug Sand rundum. Als Chefredakteur von »Sinn und Form« unter die mürbenden Instrumente der sozialistisch-realistischen Zensur geraten, existierte er hier in jener Einsamkeit, die überhaupt sein Leben prägte. Diesem Autor war die 277. Ausgabe der Reihe gewidmet, ganz in Gelb gehalten wie der Sand, der ihn einst umlagerte.

Natürlich möchte man aus fünfzig Jahren nur und nur zitieren. Gottfried Benn: »Am schlimmsten:/ nicht im Sommer sterben,/ wenn alles hell ist/ und die Erde für Spaten leicht.« Novella Matwejewa über den Wind: »Man hält einen Nagel/ nur so in der Hand/ er geht ohne Hammer/ von selbst in die Wand.« Georg Maurer: »Ich bin aus den Nachtsorgen gekrochen/ wie ein Vogel aus dem Ei./ Ich habe die Schale durchbrochen/ und spaziere jetzt frei.« Sogar Karl Marx: »So rollt denn fort, ihr Lebenswogen,/ Stürzt weiter, reißet ein die Bogen,/ Von Freiheit golden angehaucht,/ Wenn ihr ins Nichts entgeistert taucht.« Nobelpreisträger Tomas Tranströmer: »Die Musik ist ein Glashaus am Hang/ wo Steine fliegen, Steine rollen./ Die Steine überrollen alles/ doch die Scheiben bleiben heil.«

Paul Celan schrieb über seine Dichterfreundin: »Es überfliegen uns auch falsche Sterne, gewiss, aber das Staubkorn, durchschmerzt von der Stimme der Nelly Sachs, beschreibt die unendliche Bahn«. Jedes Gedicht ist solch ein Staubkorn; und zu dem, was die unendliche Bahn der Poesie bildet, gehören die Bändchen dieses legendären, schönen Ideendramas in Fortsetzungen und Versen. Von Monat zu Monat schöne, verschlüsselte, klare Nachrichten von der weiten Welt der tieferen Empfindung, des schwingenden Appells, des luftigen Liedes, der aufrührerischen Hymne, des gereimten Prinzips Zuversicht, der sinnenden Klage, des leisen Schreis, der stolz bleibenden Klage, des freundlichen Eingedenkens und des zornigen Aufrufs. Besonderes Augenmerk gilt regelmäßig den Verfemten, Verfolgten der deutschen Gewaltdiktatur.

Wie dichtete Wilhelm Lehmann, Poesiealbum 297: »Die Welt verliert ihren Schmerzensleib,/ Er ruht im Arm des Gedichts.« Welt, ruhe also geborgen; Gedicht, stör uns (weiter) auf!

Hans-Dieter Schütt traf die Auswahl zum Jubiläumsheft 333: B. K. Tragelehn (32 S., brosch., 5 Euro, Grafik vom Dichter selbst). Ein solches Heft sollte bereits 1978 erscheinen, wurde jedoch verboten, Tragelehns Theaterarbeiten galten als zu renitent. »Ja, es ist wahr, es spricht gegen die Kirche, die alte die neue/ Dass sie die Ketzer verbrennt. Ketzer, sie sprechen für Gott.«

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