EU-Armenhaus übernimmt Ruder

Elf Jahre nach Beitritt zur Europäischen Union ist die Bilanz des Balkanstaates gemischt

  • Thomas Roser, Belgrad
  • Lesedauer: 3 Min.
Ein meist nur beiläufig wahrgenommener Mitläufer in Europas kriselndem Wohlstandsbündnis rückt plötzlich ins Zentrum. Elf Jahre nach dem Beitritt zur Europäischen Union hat deren ärmstes Mitgliedsland - Bulgarien - am 1. Januar erstmals die EU-Präsidentschaft übernommen. Zwischen Nervosität und hoffnungsfroher Erwartung schwankte vor der Premiere die Gefühlslage in Sofia: Nicht nur die rechtsnationale Regierung, sondern auch viele Bulgaren erhoffen sich von der Ratspräsidentschaft ein Aufpolieren des eher zweifelhaften Images als besonders korruptes und relativ rückständiges Land.

Nichts wollen die neuen EU-Ratsherren dem Zufall überlassen. 3000 Überwachungskameras leuchten fast jeden Winkel der stets ein wenig verschlafen wirkenden Hauptstadt aus. Die Schlaglöcher an den Ausfallstraßen zum Flughafen sind ausgebessert worden. Die Pferde- und Eselskarren sollen aus dem Stadtbild verschwinden.

Selbst der lange baufällige Bunker des Nationalen Kulturpalastes wurde für umgerechnet 22,5 Millionen Euro rechtzeitig zur EU-Präsidentschaft noch modernisiert. Doch kein bulgarisches Großprojekt ohne Korruptionsschatten: Gegen den früheren Direktor des Kulturpalastes hat die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts auf Missbrauch von öffentlichen Mitteln mittlerweile Ermittlungen eingeleitet.

Ein Unsicherheitsfaktor bleiben für den bulligen bulgarischen Dauerpremier Bojko Borissow seine nationalistischen Koalitionspartner der Vereinten Patrioten, die regelmäßig gegen die ungeliebte und diskriminierte Minderheit der Roma ebenso wie gegen Flüchtlinge vom Leder ziehen.

Davon abgesehen gehen den künftigen Ratsvorsitzenden die in Brüssel populären Floskeln ohne Probleme über die Lippen. Mit »Konsens, Konkurrenz und Kohäsion« wolle man zur »Sicherheit, Stabilität und Solidarität« der EU beitragen, so Sofias begrenzt verständliche Schlagwortbotschaft zum EU-Ratsvorsitz. Auch die selbstgewählte Rolle als Anwalt der EU-Erweiterung auf dem Westbalkan sieht Bulgarien im Zeichen seines Präsidentschaftsmottos, das lautet: »Einigkeit macht stark.«

Um die Einigkeit ist es in der nicht nur in Fragen der Flüchtlingspolitik auseinanderdriftenden EU zwar keineswegs gut bestellt. Doch zumindest an seiner Südostflanke erfreut sich der Staatenbund laut Eurobarometer weiterhin einer ungebrochen hohen Popularität: 57 Prozent der Bulgaren gaben an, der EU zu vertrauen - das Vertrauen zur eigenen Regierung liegt hingegen nur bei der Hälfte.

Dabei wirkt Bulgariens EU-Bilanz eher durchwachsen. Als Habenichts trat das Land 2007 der Union bei - und dümpelt elf Jahre später weiter am Ende fast aller EU-Sozialstatistiken. Auch solide Wachstumsraten von rund drei Prozent, eine Arbeitslosigkeit von unter sechs Prozent und Staatsschulden von weniger als 30 Prozent haben den anhaltenden Exodus aus dem Billiglohnland ins EU-Ausland kaum stoppen können. Fast ein Fünftel seiner immer älter werdenden Bevölkerung hat Bulgarien im letzten Vierteljahrhundert an die Emigration verloren.

Denjenigen, die bleiben, droht oft Altersarmut: Mit Durchschnittsrenten von 170 Euro pro Monat kommen Rentner selbst in Bulgarien kaum mehr über die Runden.

Größte Entwicklungshemmer bleiben die florierende Vetternwirtschaft und der mangelhafte Rechtsstaat: Nach einer 2016 veröffentlichten Studie des Europaparlaments kostet die Korruption das Land jährlich fast 15 Prozent seines Sozialprodukts. In alljährlichen Fortschrittsberichten liest die EU-Kommission Bulgarien wegen der ausbleibenden Erfolge im Kampf gegen die Geisel der Korruption ausführlich - und meist folgenlos - die Leviten.

Den gegängelten Medien ist als Frühwarnsystem und vierte Gewalt im Balkanstaat ohnehin weitgehend der Zahn gezogen. Im Pressefreiheitsindex von Reporter ohne Grenzen ist Bulgarien unter EU-Ägide seit 2007 vom 51. auf den 109. Rang abgerutscht.

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